Staatsmann Nr. 1

Durchlauferhitzte Geschichtsstunde: die Dokumentation „Atatürk – Die Geburt einer Republik“ (20.45 Uhr, Arte)

Die Geschichte der modernen Türkei ist die Geschichte von Mustafa Kemal, genannt Atatürk, und umgekehrt: Es gibt wohl wenig andere Länder, deren Geschicke so sehr mit einer Person verknüpft waren. Leider erfährt man über beide im Unterricht an deutschen Schulen so gut wie nichts, weswegen sich die Diskussion über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei auch auf einem denkbar niedrigen Niveau von Klischees und Unwissen bewegt. Arte hat es sich zur Aufgabe gemacht, vor dem geplanten Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober diese Bildungslücke zu schließen. Leider hat sich die Autorin Séverine Labat nur 52 Minuten Zeit genommen, um die Biografie Atatürks und „die Geburt einer Republik“, so der Untertitel, nachzuzeichnen. So geht es im Schnelldurchlauf durch die wichtigsten Etappen, wobei die schiere Faktenfülle die meisten Zuschauer überfordern dürfte.

Die Regisseurin bietet eindrucksvolle Archivaufnahmen auf, aber es bleibt kaum Zeit, sie wirklich zu erfassen. Atatürk tauscht irgendwann die Uniform gegen Frack und Zylinder und steigt vom ehrgeizigen Offizier, der im türkischen Befreiungskrieg den Siegermächten des Ersten Weltkriegs wie auch dem Sultan in Istanbul den Kampf ansagt, zum erster Mann im neuen türkischen Staat auf. Dort führt er eine Kulturrevolution von oben an, die das orientalische Land in eine Nation nach europäischem Vorbild umkrempeln soll, und die sich erst durch Jugendarbeit und den Aufbau von Massenorganisationen zu einer politischen Bewegung wandelt.

Der Film lässt viele kritische Intellektuelle wie Murat Belge oder Hamit Bozarslan zu Wort kommen, die den Politiker Atatürk und sein ideologisches Erbe, den Kemalismus, historisch einordnen. Sie ziehen ein ambivalentes Fazit. Denn einerseits war Atatürk ein Mann des Fortschritts, der in der Türkei das Frauenwahlrecht einführte, elf Jahre bevor die Französinnen in diesen Genuss kamen. Andererseits regierte er mit eiserner Faust, und das Tempo seiner radikalen Reformen hat in der Türkei manches gesellschaftliche Trauma hinterlassen. So erfährt man, wie die heutigen Probleme des Lands schon in den Gründungsjahren der Republik angelegt sind, das Kurdenproblem wie auch der politische Islam.

Für den Privatmann Atatürk bleibt da wenig Zeit. So wird zwar erwähnt, dass er mit 57 Jahren einer Leberzirrhose erlag – aber nicht, dass diese auf seinen übermäßigen Alkoholkonsum zurückging. So kratzt der Film nicht an den Tabus, die den Mythos Atatürk auch heute noch umgeben – gerade in der Türkei, wo noch immer ein anachronistischer Personenkult betrieben wird und jedem drakonische Strafen drohen, der das Andenken Atatürks anzugreifen wagt.

D. Bax