Machtmissbrauch in Unterkünften: Sie suchten Schutz

Immer wieder misshandeln Wachleute in Unterkünften Geflüchtete. Für die Täter hat das so gut wie keine Konsequenzen.

Ein Junge lehnt an in einer öffenen Tür

In der Flüchtlingsunterkunft in Burbach soll es zu mehrfachem Missbrauch gekommen sein Foto: Imago/Thomas Frey

Es ist der Morgen des 31. Dezember 2016 in der Erstaufnahmeeinrichtung Hamburger Straße in Dresden. Argjent Mehmeti schläft, als drei Sicherheitsmänner das Zimmer seiner Familie betreten wollen. Mehmetis Frau ist noch nicht angezogen. Ihr Mann drückt die Tür zu, die Männer sollen sie nicht halbnackt sehen.

Dabei werden die Angeln der Tür beschädigt, die Sicherheitsmitarbeiter machen Mehmeti dafür verantwortlich. Er soll die Unterkunft sofort verlassen, Mehmeti weigert sich. Die Wachmänner bedrohen ihn, sie hätten gesagt „Ich mach dich gleich kaputt, was willst du machen?“, erinnert sich Mehmeti.

Er erstattet Anzeige. „Das Schlimme ist“, sagt er heute, „so was habe ich von Deutschland nie gedacht. Die Wachmänner sind organisiert und verdienen zu viel Geld. Deswegen macht da keiner was.“

Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art in der Unterkunft. Auf einem Handyvideo von Dezember 2016 ist zu sehen, wie Sicherheitsangestellte nachts Bewohner über den Hof jagen, sie verprügeln. Ein anderes Video vom Oktober 2015 zeigt, wie Wachpersonal einen Asylbewerber tritt und schlägt. Ohne im Video ersichtlichen Grund nehmen sie den Mann in den Schwitzkasten und drücken ihn zu Boden.

Zwei Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise ist es um die Unterbringung Asylsuchender in Deutschland stiller geworden. Je weniger Menschen kommen, desto weniger wird über sie berichtet. Doch in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften kommt es weiterhin regelmäßig zu Körperverletzungen durch Sicherheitskräfte, zu Bedrohungen, manchmal gar zu Misshandlungen. In Berlin stehen Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen im Verdacht, Geflüchtete in die Prostitution vermittelt zu haben, um mit der Zuhälterei zu verdienen. In den seltensten Fällen zeigen die Bewohner einer Unterkunft das Wachpersonal an. So wird es noch stiller. Die taz hat deutschlandweit 20 Fälle analysiert, über einige wurde bereits berichtet, andere sind neu, so wie der von Argjent Mehmeti. Es geht um Drohungen, Misshandlungen, um zu wenig Personal, miserable Bezahlung von Mitarbeitern und fehlende Kontrollen durch Kommunen und Länder. Zusammen ergeben sie ein besorgniserregendes Bild.

Der Betreiber der Dresdner Unterkunft, in der Argjent Mehmeti, seine Frau und seine kleine Tochter gelebt haben, ist zum Zeitpunkt der Drohungen das Deutsche Rote Kreuz. Die Sicherheitsfirma ist vom Land Sachsen beauftragt.

Aus der Landesdirektion Sachsen heißt es auf die Frage, was nach der Situation an der Tür passiert sei: „Der Vorfall wurde im Anschluss mit allen Beteiligten ausgewertet.“ Die Sicherheitsfirma, Ihre Wache GmbH, ist weiterhin für die Unterkunft zuständig. Eva Wagner, Pressesprecherin von Ihre Wache schreibt: „Mit den betreffenden Personen wurden im Rahmen der Auswertung umfangreiche Gespräche geführt.“ Die Zimmer hätten aus brandschutzrechtlichen Gründen durchsucht werden müssen, der Betreiber habe dies angeordnet.

Bezüglich den Gewaltvideos schreibt Wagner, Ihre Wache könne anhand der Beschreibung keine bekannten Vorfälle zuordnen. Zu personalrechtlichen Konsequenzen werde man aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Stellung nehmen. In derselben Mail droht Ihre Wache, „aus allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten“ gegen die taz vorzugehen, sollte sie Videos oder Sprachaufnahmen veröffentlichen.

In nur zwei Fällen Verantwortliche verurteilt

Bei der weiteren Recherche stößt die taz auf Unterkünfte im brandenburgischen Finsterwalde, die von dubiosen Berliner Briefkastenfirmen betrieben wurden. Auf ein laufendes Verfahren gegen zehn Mitarbeiter der europaweit agierenden European Homecare vor dem Siegener Landgericht, die Geflüchtete misshandelt, sich der Freiheitsberaubung oder unterlassener Hilfeleistung schuldig gemacht haben sollen. Und auf Sicherheitskräfte in Dresdner Unterkünften, die Bewohner wie Argjent Mehmeti und seine Familie bedrohen und nötigen.

Von allen zwanzig Vorfällen kam es in nur fünf zu einer Entlassung, nur sechsmal zu einer Anzeige: wegen Nötigung, Körperverletzung und auch Vergewaltigung.

In nur zwei Fällen wurden Verantwortliche verurteilt, wie etwa im niedersächsischen Lingen, wo zwei Wachmänner Geflüchtete in der Unterkunft misshandelten. Sie wurden Anfang des Jahres zu jeweils zwei Jahren auf Bewährung und zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.

Drei Verfahren laufen noch, eine Anklage wurde fallen gelassen. Typisch, sagen Opferberatungen und Flüchtlingsräte. In den wenigsten Fällen kommt es überhaupt zu Anzeigen, weil die Bewohner Angst haben und oft nicht wissen, an wen sie sich wenden können. In den wenigsten Unterkünften gibt es eine unabhängige Beschwerdestelle. Strafrechtliche Konsequenzen bleiben die Ausnahme.

Es gäbe Lösungen für diese Probleme, etwa Unterbringungsstandards, wie es sie in Alten- oder Jugendheimen gibt. Aber bisher ist die Politik nicht bereit, diese verbindlich einzuführen. Das liegt auch daran, dass die Unterbringung Geflüchteter in Deutschland Ländersache ist und bundesweite Regelungen deshalb nicht möglich sind. Die wenigen Regelungen, die es gab, wurden in den letzten Jahren immer weiter ausgehöhlt.

Und so vergeben Länder und Kommunen auch 2017 weitere Verträge an Betreiber und Sicherheitsunternehmen, die bereits mehrfach durch Straftaten aufgefallen sind oder gegen die sogar noch Strafverfahren anhängig sind.

Ein Unternehmen, an dem sich erklären lässt, wo einige der größten Probleme bei der Flüchtlingsunterbringung liegen, ist die Firma European Homecare aus Essen. Nach eigenen Angaben betreibt das mittelständische Unternehmen aktuell 80 Einrichtungen für Geflüchtete und Wohnungslose in ganz Deutschland. 2015 stieg der Umsatz von rund 39 Millionen auf fast 178 Millionen Euro. Der Nettogewinn fiel fünfmal so hoch aus wie 2014: Rund 26 Millionen Euro blieben übrig. Für Personal gab die Firma in dem Jahr 35,5 Millionen aus, 20 Prozent des Umsatzes. European Homecare, so Pressesprecher Klaus Kocks in einem Interview mit dem Spiegel, sei der „Aldi unter den Anbietern.“ Nur die Umsatzrendite, so Kocks, sei besser als die des Discounters.

Ein Mann hat sein Bein auf den Kopf eines Menschen gestellt, der am Boden liegt

In Burbach fotografierten sich Wachmänner dabei, wie sie einen Geflüchteten quälen Foto: Polizei NRW

Auch in einem anderen Bereich ist European Homecare führend, gegen das Unternehmen gibt es eine rekordverdächtige Anzahl strafrechtlicher Vorwürfe:

Burbach, Nordrhein-Westfalen, 2014: Zehn Mitarbeitern der European Homecare und sechsundzwanzig Mitarbeitern des zuständigen Wachdienstes, der durch das Unternehmen beschäftigt war, wird vorgeworfen, Bewohner genötigt und misshandelt zu haben. Geflüchtete sollen in ein „Problemzimmer“ eingesperrt und gequält worden sein. Ein Handyfoto zeigt, wie einer der Wachmänner seinen Stiefel in den Nacken eines Geflüchteten drückt, der am Boden liegt. Es kommt zur Anklage. Das Hauptverfahren hat noch nicht begonnen.

Finnentrop, Nordrhein-Westfalen, 2016: Einem Heimleiter wird vorgeworfen, eine Syrerin, die er in der Unterkunft in Finnentrop kennengelernt hat, viermal vergewaltigt zu haben. In E-Mails hat er sich als „Dr. med“ ausgegeben, obwohl er nie Medizin studiert hat. Der Niederländer ist, schon bevor er beginnt, in Finnentrop für European Homecare zu arbeiten, 19-mal strafrechtlich auffällig geworden. Für eine Verurteilung reichen die Beweise nur im Anklagepunkt des Titelmissbrauchs. Das Landgericht Arnsberg verurteilt ihn zu neun Monaten auf Bewährung.

Niederkrüchten, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen hält sich nicht an den vertraglich mit dem Land vereinbarten Personalschlüssel, stellt die Bezirksregierung Düsseldorf bei Kontrollen fest. Zu wenige Mitarbeiter betreuen zu viele Bewohner. Außerdem kassiert European Homecare gleichbleibend viel Geld von der Stadt, auch wenn die Unterkünfte nicht voll belegt sind. Die Bezirksregierung reduziert daraufhin die Zahlungen.

Essen, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen stellt einen gelernten Lehrer für Biologie und Chemie zunächst als Betreuer ein. Dann teilt European Homecare ihm in einem Schreiben mit, dass er ab sofort auf der Stelle des Sozialpädagogen arbeitet, obwohl er den entsprechenden Abschluss nicht hat.

Oft werden die Betroffenen unter Druck gesetzt

Trotz alldem wurden auch im Sommer 2017 neue Verträge an European Homecare vergeben – vom Land Nordrhein-Westfalen für die Zentrale Unterbringungseinrichtung in Mettmann und eine weitere in Rüthen. Vom Land Niedersachsen für das größte Ankunftszentrum im Norden, Bad Fallingbostel-Oerbke. Und auch vom Land Sachsen für die Erstaufnahmeeinrichtung in der Hamburger Straße in Dresden – dort, wo Argjent Mehmeti mit seiner Familie gelebt hat. Das Deutsche Rote Kreuz betrieb die Einrichtung bis August 2017, dann kam European Homecare.

Fragt man Holm Felber, Pressesprecher der Landesdirektion Sachsen, warum das Deutsche Rote Kreuz den Zuschlag nicht erneut bekommen hat, sagt er: „Der neue Anbieter konnte garantieren, dass er die Leistungen auch erbringen wird.“ Zu einem günstigeren Preis? „Das war in jedem Fall so.“ Bei welchen Positionen genau European Homecare günstiger war, ist nicht zu erfahren.

Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW hat eine Vermutung: „Das Einzige, woran man sparen kann, ist Personal.“ Der Personalschlüssel werde von Betreibern zwar formal eingehalten, aber die Mitarbeiter wiesen niedrigere Qualifizierung auf als von European Homecare, kurz EHC, angegeben.

Pressesprecher Klaus Kocks schreibt auf Anfrage der taz: „EHC ist wegen seines Qualitätsmanagements zum qualitativen Marktführer dieser Anbietergruppe geworden; das kontrollieren in Deutschland Hunderte von Gebietskörperschaften tagtäglich.“ Eine abweichende Praxis würde sofort und an vielen voneinander unabhängigen Stellen bemerkt.

Dass die staatlichen Kontrollen, auf die European Homecare sich bezieht, oft nicht ausreichend sind, zeigt die Arbeit von Juliane Pink. Sie ist Beraterin für Betroffene von rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt in Dresden und hat den Fall der Familie Mehmeti betreut. Von Januar bis Anfang September 2017 haben sie und ihre Kollegen insgesamt 130 Beratungen durchgeführt. Pink schätzt, dass nur 20 Prozent der Fälle, die sie betreut, zur Anzeige gebracht werden. Dabei geht es um Körperverletzung, Bedrohung oder Nötigung – vor allem durch Sicherheitspersonal. Oft werden die Betroffenen unter Druck gesetzt: Sie kenne Fälle, in denen Zimmer regelmäßig durchsucht wurden oder Essen rationiert wurde.

Seitdem European Homecare Betreiber der Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden ist, könnten sie, ihre Kollegen und der Flüchtlingsrat die Unterkunft nicht mehr ohne Anmeldung betreten: „Im Moment erreichen uns deshalb weniger Vorfälle, in den letzten zwei Monaten gar keine mehr“, sagt Pink.

Ein Berliner Heimleiter war ständig betrunken

Wenn es doch mal zu einer Anzeige gegen Sicherheitspersonal kommt, haben die Kläger schlechte Karten. Oft ist nicht nur die Beweislage schwierig, den Bewohnern der Unterkünfte wird auch nicht geglaubt. „Ein Securitymitarbeiter hat in einem Ermittlungsverfahren einen ganz anderen Stand als Geflüchtete. Den Eindruck haben wir“, sagt Juliane Pink, „und den gewinnt man auch immer wieder, wenn man sie zur Polizei begleitet.“ So folge bei Körperverletzung meistens nichts, manchmal eine Entlassung und nur ganz selten ein Gerichtsurteil.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass staatliche Kontrollen in den letzten Jahren nicht ausreichend waren, ist der Fall der mittlerweile geschlossenen Notunterkunft in der Berliner Gürtelstraße. Maria Wehle hat bis zur Schließung im Dezember 2016 dort gearbeitet – und ist seitdem psychisch und körperlich so angeschlagen, dass sie vorerst gar nicht mehr arbeiten kann.

„Ich habe nur noch 40 Kilo gewogen, das hat mich schon sehr mitgenommen“, sagt sie bei einem Treffen Ende Mai. Auch Monate nach Ende ihrer Beschäftigung sieht man ihr die Erschöpfung noch an. Nur zögerlich hatte sie einem Interview zugestimmt.

Geführt wurde die Notunterkunft in der Gürtelstraße vom Berliner Verein zur Förderung von Arbeit, Forschung und Bildung e. V., kurz AFB. Leiter war Farhad V., ein Mann, der häufig betrunken war, Bewohner bedroht oder sogar angegriffen hat – so beschreiben es Maria Wehle und Thomas Barthel, Vorstand des Vereins „Friedrichshain Hilft“, der dort aktiv war.

Bereits am 16. März 2016 wendet sich Friedrichshain Hilft schriftlich an das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das damals noch zuständig für Flüchtlinge war, um die Behörde auf die Missstände in der Unterkunft aufmerksam zu machen.

In der E-Mail steht: „Wir sind nicht länger gewillt, mit einem Heimleiter zusammenzuarbeiten, der ein offensichtliches Alkoholproblem und dieses auch im Dienst nicht im Griff hat, der dazu neigt, Bewohnerinnen und Bewohner im angetrunkenen wie im nüchternen Zustand anzubrüllen und zu beschimpfen.“

In dem Schreiben heißt es weiter, dass Farhad V. versucht habe, einer weiblichen Bewohnerin das Kopftuch herunterzureißen und Tücher, die als Sichtschutz befestigt waren, zu entfernen. Die Bewohnerinnen hätten sich „häufig massiv belästigt“ gefühlt. Alle Versuche der taz, Farhad V. oder seinen Arbeitgeber, den Verein AFB, für eine Stellungnahme zu erreichen, blieben erfolglos.

„Ich hab immer bis zwölf Uhr nachts gearbeitet, ihn oft nachts betrunken mitbekommen“, sagt Maria Wehle. Weil sie noch immer Angst vor Farhad V. hat, wurde ihr Name in diesem Text geändert. Wehle hat keine Ausbildung zur Sozialarbeiterin und war vor ihrer Anstellung ehrenamtlich in der Unterkunft tätig. Laut Wehle wollte Farhad V. eine Betreuung rund um die Uhr – hatte aber viel zu wenige Mitarbeiter dafür.

Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das im August 2016 die Zuständigkeit vom Landesamt für Gesundheit und Soziales übernommen hat, schickt Mitarbeiter der Qualitätskontrolle in die Unterkunft, doch Maria Wehle und Friedrichshain Hilft berichten übereinstimmend, dass diese mehr oder weniger angekündigt waren und niemals abends kamen.

Wehle sagt: „Ich hätte mir gewünscht, dass sie nicht nur zu ihren Bürozeiten kommen, wo er auch meistens nüchtern war.“ Weil ihre Schicht immer erst um 16 Uhr begann, sei sie nicht von den Mitarbeitern des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten befragt worden. Dessen Pressesprecher dementiert diese Darstellung: Kontrollen fänden zu unterschiedlichen Tageszeiten und unangekündigt statt.

Farhad V. lässt sich laut Wehle und Friedrichshain Hilft von den Bewohnern unterschreiben, dass alles in Ordnung ist. „Das hat er mit dem Schreckensgespenst verbunden, dass das Heim sonst geschlossen wird und dann vielleicht alle nach Tempelhof kommen“, sagt Wehle. Der ehemalige Flughafen ist eine der größten Massenunterkünfte Deutschlands.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Das Landesamt kommt so zu dem Schluss, dass es keine Probleme gibt. Gleichzeitig spitzt sich die Situation in der Unterkunft in den folgenden sechs Monaten zu. Wehle sei zeitweise allein für 200 Menschen zuständig gewesen, während Farhad V. in der nahe gelegenen Kneipe „festgetackert“ gewesen sei. Sie gibt Essen aus, kümmert sich um Kinder, schlichtet Streitereien. Sie denkt immer wieder daran zu kündigen, will aber die Bewohner nicht mit V. allein lassen.

„Am Ende war das Glück, dass er auch morgens betrunken war und wir dann beim Landesamt jemanden erreicht haben“, sagt Maria Wehle. Im Herbst 2016 schlägt eine Ärztin Alarm, die in der Unterkunft aktiv ist. Friedrichshain Hilft schickt ein weiteres Beschwerdeschreiben an das Landesamt, dann handelt die Behörde. Sie beraumt ein Mediationsgespräch an, in dem Farhad V. mit sofortiger Wirkung den Dienst quittiert. Kurze Zeit später wird die Unterkunft geräumt. Rechtliche Konsequenzen gibt es weder für den Betreiber noch für den Heimleiter.

Warum ist das Land Berlin nicht früher und energischer vorgegangen? Hinweise auf Fehlverhalten und Vertragsbruch durch den Betreiber gab es spätestens seit dem ersten Beschwerdebrief im März 2016. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten sagt hierzu: „Die Qualitätssicherung verfügt über Außendienstmitarbeiter, die regelmäßig die gut 100 Unterkünfte des Landesamts kontrollieren. Wir gehen allen Hinweisen binnen kürzester Frist, oftmals bereits am nächsten Tag nach. Sollten dabei Mängel auftreten, wird dem Betreiber eine Frist eingeräumt, binnen der er die Missstände abstellen kann.“

Die Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen werde kontrolliert: „Für den Fall, dass der Betreiber nicht in der Lage ist, die Missstände zu beseitigen, droht im äußersten Fall die Kündigung des Vertrags.“ Eigentlich müssten Kontrollen noch weiter gehen – sie müssten grundsätzlich stattfinden und nicht anlassbezogen. Genügt es wirklich, nur auf Problemmeldungen von Bewohnern zu reagieren, die oft ziemlich eingeschüchtert sind?

Ein Instrument, das mit dem Anspruch entwickelt wurde, Unterkünfte ganzheitlich und ohne Anlass zu evaluieren, ist der sächsische Heim-TÜV. Er wurde bereits 2011 vom Büro des Ausländerbeauftragten des Landes Sachsen, Geert Mackenroth, entwickelt. Der dazugehörige Fragebogen verlangt explizit auch Auskünfte zu Übergriffen durch Angestellte der Unterkunft oder Sicherheitsbeamte und beinhaltet detaillierte Fragen zu Spannungen zwischen Bewohnern und Heimleitung.

Keine verbindlichen Mindeststandards

Verwunderlich allerdings: Das letzte Mal, dass dieser Heim-TÜV auf Gemeinschaftsunterkünfte angewandt wurde, war 2013. Eine Evaluierungsrunde 2017 in Sachsen beschäftigte sich nur mit der dezentralen Unterbringung. Wenn es die Instrumente schon gab, warum hat man sie dann seit 2015 nicht angewandt?

Aus der Geschäftsstelle des sächsischen Ausländerbeauftragten heißt es dazu, dass der Heim-TÜV für die vier Mitarbeiter schlicht nicht durchführbar gewesen sei, schließlich habe es zu Hochzeiten bis zu 160 Unterkünfte gegeben.

In vielen Bundesländern gibt es keine Mindeststandards für Gemeinschaftsunterkünfte. In Nordrhein-Westfalen wurden diese zeitweise aufgehoben, die Vertragsstrafe ausgesetzt. Erst im Januar 2017 wurde sie wieder eingeführt, das heißt, das Land kann jetzt wieder Sanktionen verhängen, wenn der Betreiber den vertraglich zugesicherten Leistungen nicht nachkommt. Davor war ein Einschreiten erst dann möglich, wenn es strafrechtlich relevant wurde.

Birgit Naujoks, Flüchtlingsrat NRW

„Ich glaube, dass immer noch nicht der Wille da ist, alles von Grund auf aufzuarbeiten und an die Öffentlichkeit zu bringen.“

Nach den Misshandlungsfällen in Burbach wurde in Nordrhein-Westfalen außerdem ein 8-Punkte-Plan zur Einstellung von Sicherheitskräften eingeführt: verbindliche Standards, die unter anderem den Einsatz von Subunternehmen untersagen und Bewerber verpflichten, ein polizeiliches Führungszeugnis vorzulegen. „Insgesamt hat sich da einiges getan“, sagt Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW. Was aber noch fehlt – und nicht nur in Nordrhein-Westfalen – ist Transparenz. „Ich glaube, dass immer noch nicht der Wille da ist, alles von Grund auf aufzuarbeiten und an die Öffentlichkeit zu bringen.“

Ausschreibungen für Betreiber sind meistens nicht öffentlich, genauso wenig die Einstellungskriterien von Sicherheitskräften. Damit bleibt die Tür für Geschäftemacherei weiter offen.

Was zählt? Preis oder Qualität?

Betreiber und Behörden müssten offensiver mit Fehlern umgehen, fordern die Flüchtlingsräte. Dafür müsste auch innerhalb der Unterkünfte eine Atmosphäre herrschen, die den Bewohnern Raum für Beschwerden gibt. Ein Großteil dieser Angebote ist aber noch nicht niedrigschwellig genug, und viele Geflüchtete fürchten die Konsequenzen, wenn sie eine Machtperson wie einen Sicherheitsmann oder einen Heimleiter melden.

In Nordrhein-Westfalen gibt es mittlerweile eine überregionale Beschwerdestelle, die direkt am Flüchtlingsrat angedockt ist. Sie ist aber nur für die vom Land finanzierten Unterkünfte zuständig; was auf kommunaler Ebene passiert, erreicht sie nicht. Das ist symptomatisch für einen Flickenteppich aus Lösungsversuchen mit vielen Löchern und keinerlei einheitlichen Standards.

Vielerorts versucht deshalb der Staat wieder mehr Aufgaben an sich zu nehmen. Das Land Berlin etwa errichtet Immobilien für Unterkünfte nun selbst. Die Betreiber aber haben nach wie vor ein großes Drohpotenzial: Als die Berliner Integrationssenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei im Juli 2017 ankündigte, die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen Flüchtlingsheimbetreiber Gierso zu beenden, drohte das Unternehmen, die Unterkünfte umgehend zu schließen und 900 Bewohner auf die Straße zu setzen.

Man ließe sich nicht erpressen, hieß es von Breitenbach, die Menschen wurden eilig anderweitig untergebracht.

Selbst wenn sich ein Umdenken abzeichnet und der Staat wieder mehr übernimmt, er wird auf privatwirtschaftliche Unternehmen und Wohlfahrtsverbände angewiesen bleiben, um Geflüchtete unterzubringen. Und so ergeben sich immer wieder neue Probleme im Zusammenspiel von Staat und Betreibern, die nur durch klare Kontrollmechanismen behoben werden können.

In vielen Bundesländern wurde kürzlich die Gewichtung von Preis zu Qualität in den Ausschreibungen geändert. Waren es in Berlin beispielsweise 40 Prozent Preis und 60 Prozent Qualität, sind es jetzt 70 Prozent Qualität und nur noch 30 Prozent Preis. Als Qualitätskriterien gelten etwa qualifizierte Mitarbeiter, Brandschutz sowie Jugend- und Kinderschutzmaßnahmen.

Für die Flüchtlingsunterkunft am ehemaligen Flughafen Tempelhof hat sich unter diesen Bedingungen allerdings kein einziger Betreiber beworben. Vermutlich, weil es sich für sie nicht lohnt: 2019 sollen die Container wieder abgerissen werden.

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