Prozess nach Drogen-Experiment: Der Rausch von Handeloh

Ein Drogenexperiment während eines Seminars in Niedersachsen ging schief. 27 Menschen landeten im Krankenhaus. Nun ist der Psychotherapeut angeklagt

Bin ich ein Reptil? Drogen führen mitunter zu Wahrnehmungsstörungen (hier eine Szene aus dem Film „Fear and Loathing Las Vegas“) Foto: imago

STADE taz | Vielleicht ist es das, was man versteht, wenn man den Schwurgerichtssaal des Landgerichts Stade am Donnerstag verlässt: was Öffentlichkeit eigentlich bedeuten kann. Man versteht es, wenn man sieht, wie die FotografInnen den Angeklagten Stefan S. ablichten. S., 52-jähriger Psychologe und Therapeut, ist angeklagt, bei einem Selbsterfahrungsseminar in der Heide 2015 den TeilnehmerInnen bewusstseinserweiternde Drogen verabreicht zu haben. Daraufhin verfielen sie in Halluzinationen und Krampfzustände, die einer der herbeigerufenen Notärzte vor Gericht „lebensbedrohlich“ nennt.

Stefan S. formuliert „aufrichtiges Bedauern über den Unfall“. S. trägt ein graues Hemd und eine helle Leinenhose. Er verbirgt seinen Kopf während des Fotografierens nicht hinter einem Aktendeckel, er sucht den Blick jedes Zeugen und jeder Zeugin.

Für Stefan S., das wird schnell klar, ist dieser Tag die Chance, einer Öffentlichkeit klarzumachen, dass er nicht der „Drogen-Therapeut“ ist, der eine Schar Heilpraktiker in einen Massenrausch versetzt hat, wie es die Zeitungen geschrieben haben. Also verliest er zu Beginn der Verhandlung eine lange persönliche Erklärung: eine zu seinem Werdegang und eine ebenso lange zu den Vorfällen.

Es ist eine Erklärung voller Details, deren Bedeutung sich erst auf den zweiten Blick erschließen. Dass er Sohn eines gelernten Müllers und einer Fleischereifachverkäuferin ist, dass er Ministrant war, die Schwester Bankkauffrau, dass er ein Grundstudium Theologie parallel zur Psychologie absolviert hat. Ein Elternhaus, so wird er schlussfolgern, das Zuverlässigkeit mitgegeben hat, aber auch offene Fragen. Die lange Arbeit in einer Unfallklinik mit schwerst traumatisierten PatientInnen, das Vertrauen, das die Ärzte ihm entgegengebracht hätten.

Die Psycholyse ist eine Psychotherapie, bei der die Klienten illegale Drogen verabreicht bekommen. Es werden zum Beispiel Stoffe aus der Gruppe der Psychedelika wie LSD, psilocybinhaltige Pilze und Mescalin verwendet.

Die psycholytische Therapie ist ein sehr umstrittenes Verfahren und die Therapeuten machen sich im Zweifel strafbar.

2009 starben in Berlin zwei Teilnehmer einer Gruppen­sitzung an den Folgen des Drogenkonsums. Sie hatten unter anderem MDMA (Ecstasy) eingenommen. Der Therapieleiter, ein Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut, wurde zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.

S. lässt das Private nicht aus, die erste Ehe mit zwei Kindern, die zweite mit der Heilpraktikerin Anja W., mit der er zwei weitere Kinder hat. Mit ihr gemeinsam hat er das Seminar veranstaltet. Das Verfahren gegen Anja W. ist gegen eine Geldbuße eingestellt worden. Gelegentlich versagt S. die Stimme, als er beschreibt, wie er sich ein Leben nach seinen Vorstellungen aufgebaut hat. Wie er 2013 Haus und Praxis in Aachen aufgegeben hatte, um einen alten Hof im Norden zu kaufen und zu restaurieren.

Irgendwo in S. Werdegang taucht dann Wilhelm Reich auf, der Begründer diverser Körpertherapien, die umstritten geblieben sind. Wie auch die psycholytische Psychotherapie und der laut S. „in den Medien umstrittenen“ Psychotherapeut Samuel Widmers, der mit Psycholyse arbeitete und dem nachgesagt wurde, es sei bei Behandlungen zu Vergiftungsfällen gekommen. In Deutschland ist das Verfahren verboten, sagt S., dabei werde es doch etwa zur Behandlung von US-Veteranen genutzt – und dann dreht er sich zur Pressebank um: „Darüber sollte man schreiben.“

Der Staatsanwalt hat S. in der Anklage vorgeworfen, die psychoaktive Substanz 2C-B im Rahmen einer Psycholyse verabreicht zu haben. 2C-B ist in Deutschland laut Betäubungsmittelgesetz ein nicht verkehrsfähiger Stoff – S. soll davon gewusst haben.

Er selbst sagt, die Anklagevorwürfe seien „zurecht erhoben“. Aber anderes will er richtig stellen: Das 2C-B habe er legal von einem langjährigen Bekannten erworben, auf dessen Aussage er sich verlassen habe. Die Dosen, in der es habe verabreichen wollen, seien völlig ungefährlich. Dass dem Stoff die psychodelische Substanz Bromo-Dragon-fly beigemischt worden sei, habe er nicht gewusst.

Die TeilnehmerInnen seines Seminars haben 290 Euro Teilnahmegebühr plus die Kosten für Unterkunft und Verpflegung gezahlt. Glaubt man S., haben finanzielle Interessen kaum eine Rolle gespielt. Und, ein Detail will er korrigieren, warum auch immer: Es seien nicht vor allem Heilpraktiker angereist, sondern Menschen aus allen Berufen, Ärzte, Friseure und „vermutlich mehr ausgebildete Informatiker als Heilpraktiker“.

Ihnen habe das Ehepaar eine persönliche Selbsterfahrung in vertrautem Rahmen ermöglichen wollen. Dazu seien die Erfahrung von wahrnehmungserweiternden Drogen möglich – aber nicht notwendig. S. formuliert es diplomatisch: „Ich erkenne das menschliche Bedürfnis zur Erkenntnis- und Bewusstseinserweiterung an.“

Zuerst gab es einige drogenfreie Übungen, am späten Vormittag kam die Droge dazu. S. habe sie den TeilnehmerInnen anhand eines Informationspapiers vorgestellt, so erklärt er, und die Möglichkeiten der Einnahme erläutert. Dann verließen S. und seine Frau die Gruppe für einen Spaziergang. Das Gericht fragt: „Warum gerade jetzt?“ Man habe viele TeilnehmerInnen schon lange gekannt, sagt S., sie seien schon „sehr reif“ gewesen.

Als sie zurückkamen, hätten sie Wasser aus einer bereitstehenden Karaffe getrunken – darin habe jemand wohl die Substanz aufgelöst. Denn S. und seine Frau verfielen in den gleichen aufgelösten Zustand wie der Rest der Gruppe.

Die Vermieterin des Seminarhauses, die im Büro zu tun hatte, hörte Schreie und ging nach unten, wo sie nicht mehr ansprechbare Menschen traf: in Krämpfen, Wahnvorstellungen. Eine Frau lief in Richtung Straße. S. selbst erinnert sich daran, mit einem Teilnehmer gerungen zu haben, der gegenüber sich selbst und anderen hoch aggressiv geworden sei.

Auf Nachfrage erzählt S., dass er einen Beutel mit diversen Substanzen dabeigehabt habe: Darin habe sich LSD befunden für jene TeilnehmerInnen, die das 2C-B nicht vertragen hätten, aber auch starke Beruhigungsmittel. „Das sind verschreibungspflichtige Medikamente“, sagt die beisitzende Richterin. „Was hätten Sie bei Wechselwirkungen getan?“ Es kommt keine Antwort.

Die Vermieterin alarmierte die Rettungskräfte. 140 werden im Einsatz sein, sechs Stunden lang. Es ist schwierig, Notfallbetten für so viele PatientInnen zu finden. Der Verbrauch an krampflösenden Mitteln ist so hoch, dass Nachschub gebracht werden muss. Der Notarzt, der zuerst vor Ort eintraf, sagt vor Gericht aus, dass nur ein Mann ansprechbar gewesen sei. „Ich wollte wegfliegen“, habe der gesagt. Alle anderen hätten nur gelallt. Einige waren ohne Unterkleidung, so sagt er, und hätten aufeinandergelegen.

S. sagt, dass sein Leben seit diesem Tag nicht mehr das gleiche sei. „Plötzlich bin ich Persona non grata“, sagt er. Ihre Kinder würden in der Schule gemobbt. Hätten sie nicht Geld von Freunden geliehen und einen Kredit erhöht, wüssten sie nicht, wovon sie leben sollten.

„Würden Sie es wieder tun?“, hatte der vorsitzende Richter S. nach seiner Erklärung gefragt. „2C-B ist ein Mittel, das dazu nicht geeignet ist“, hatte der geantwortet. „Ich kann aber die Methode nicht verdammen. Es ist wie bei Luther, ich kann nicht anders.“ Sein Anwalt sieht skeptisch aus. In der Pause wird ein Mann aus dem Zuschauerraum S. umarmen. Vielleicht einer seiner Patienten. Der Prozess wird fortgesetzt.

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