„Wir sammeln Beweise“

Die Hamburger Performance-Künstlerin Evgenia Tsanana hat das „Büro für öffentliche Entlastung“ geschaffen, in dem die BesucherInnen ihre Alpträume erzählen können. Ein Gespräch über Solidarität unter Leidenden und Kunst, die wie Schnaps ist

Brachte Weihrauch mit ins Vorstellungsgespräch mit Marina Abramović: Evgenia Tsanana Foto: Miguel Ferraz

Interview Friederike Gräff

taz: Frau Tsanana, wie anstrengend ist es, tagelang zuzuhören, wenn Menschen ihre Alpträume erzählen?

Evgenia Tsanana: Das erste Mal habe ich die Performance in einem Museum gemacht, es dauerte sechs Tage und die Leute kamen pausenlos. Ich habe versucht, es so zu machen, als wäre ich ein Blitzableiter: Dass der Traum durch mich ins Papier hineinkommt, ich radiere ihn aus und er wird schwächer.

Es gab keine Träume, die sich festgesetzt haben?

Nicht so, dass sie mich verfolgen. Ich weiß noch ein paar Details, die schlimmsten waren von Menschen, die ihre Kinder verloren haben. In Athen haben mir mehrere Menschen solche Träume erzählt, wo dieser ganze Schmerz herauskam. An eine Mutter mit ihrem Sohn kann ich mich noch gut erinnern.

Was machte sie so besonders?

Sie kamen aus Armenien und waren vor dem Krieg nach Griechenland geflohen. Dieser Junge saß da alleine vor mir, die Mutter ging und er hat mir so klar erzählt und immer gewartet, bis ich gezeichnet hatte – bei Kindern habe ich nur gezeichnet, bei Erwachsenen auch geschrieben. „Das sind die bösen Menschen, die jetzt in unser Haus kommen“, so hat er erzählt. Soll ich einen Sprung zurück machen und erzählen, warum ich überhaupt so eine ernste Arbeit gemacht habe?

Ja, springen Sie.

Ich habe eine sehr schwere Zeit hinter mir gehabt, ich habe vier geliebte Menschen verloren durch Krankheit. Da habe ich den Kampf mit der Hoffnung kennengelernt, mit der Enttäuschung, und dann kommt der Tod und man ist allein mit dieser Trauer. Ich war viel in Krankenhäusern und habe gesehen, dass es da eine große Solidarität unter den Leidenden und den Angehörigen gab. Man traf sich im Gang und dann hieß es: „Wie geht es euch heute?“ Es hieß nicht, „wie geht es dir?“ und dieses „euch“ ist, was zählt. Unsere Lieben starben nicht alleine, wir starben mit. Ich habe im Krankenhaus verstanden, wie wichtig das Zuhören ist. Nicht zu sagen, alles wird gut, sondern die Menschen erst einmal reden zu lassen.

Wie wurde aus dieser Erfahrung eine Performance namens „Büro für öffentliche Entlastung“?

Ich bekam eine E-Mail von der Assistentin von Marina Abramović, bei der ich studiert habe. Wir machen dieses Projekt in Athen, hieß es. Ich hätte fünf Tage Zeit, um mir eine Langzeit-Performance zu überlegen. Ich wollte spontan etwas zu der Krise in Griechenland machen. Dann wachte ich am nächsten Tag auf und hatte die Idee: Menschen von ihren Alpträumen zu entlasten.

Ist es für viele Leute nicht sehr nah, einer Fremden ihre Träume anzuvertrauen?

Klar wollen die Leute oft erst etwas über das Projekt erfahren, bevor sie mir ihre Träume erzählen und ich beantworte ihre Fragen dann. Bis wir die Barriere der zwei Fremden überwunden haben, ist es ein Weg. Einige Leute haben geweint, ich auch mal, es war nicht zu ändern.

Nach diesem Projekt in Athen habe ich mein Leben geändert. Davor hatte ich viele Jahre gearbeitet und nebenbei immer wieder eigene Projekte realisiert, die ich „meine Sachen“ nannte. Erst seit Athen sage ich: Ich mache Kunst.

Warum waren Sie so zögerlich?

Ich glaube, das hat mit dem Kunstmarkt zu tun, weil er für mich eine ziemlich schwierige Angelegenheit ist. Mittlerweile sehe ich es lockerer und habe mir einen Job gesucht, der mich nicht so aussaugt wie die anderen und mir Zeit für meine künstlerischen Projekte lässt. Ich arbeite als Museumsaufseherin.

Dann wissen Sie, wie man sich selbst gute Gesellschaft wird.

Es ist ein schöner Job. Man kriegt zwar nicht viel Geld, 9,50 Euro pro Stunde. Aber ich liebe die Herausforderung, so viel Zeit zu haben. Mir ist selten langweilig und wenn es mir langweilig ist, dann denke ich, was tust du jetzt, und dann kommt irgendetwas in mein Hirn. Wenn du 30.000 mal an einem Bild vorbeigehst, dann spricht es zu dir.

Was sagt es?

Einmal, ich war im Museum für Kunst und Gewerbe, im Raum für ostasiatische Kunst, und ging an zwei Bahnen mit Tuschezeichnungen vorbei. Und ich hatte den Eindruck, ich höre eine Stimme: „Warum lasst ihr uns nicht sterben?“ Das hat mich sehr ins Denken gebracht. Ein Bild ist auch Materie, es hat auch sein Leben und seine Zeit. Und wir arbeiten dagegen.

Sie haben selbst eine Zeit lang Restaurierung studiert.

Ich habe in Athen Restaurierung studiert und wir hatten einen Lehrer für Chemie, der an der Akropolis arbeitete. Und er hat gesagt: „Sie wird zerfallen.“ Das war für mich ein Schock: Akropolis stirbt auch?

In Ihren frühen Arbeiten ist von Tod und Verlust wenig zu ahnen. Die sind eher skurril, etwa der Agentenfilm, der im Altonaer Schwimmbad spielt.

Ich mag diese Nebenräume von Humor. Und ich kann es ohnehin nicht ändern, ich habe diese Ideen. In meiner Familie wurde der Humor sehr gepflegt. Ich komme dazu aus der queeren Ecke, da pflegen wir den Humor auch; mittlerweile haben wir es hier als anders Seiende nicht mehr so schwer, aber wie kannst du Diskriminierung überleben, wenn du nicht mit Humor Nebenwelten schaffst? In meiner Jugend in Griechenland war es nicht lustig, die einzige Lesbe in der Schule zu sein – zumindest die einzige, bei der die anderen es wussten.

Weil Sie es offen sagten?

Nein, man hat es gesehen oder vermutet. Ich hatte eine Freundin, wir haben es versteckt, aber die ganze Schule hat es gewusst. Ich habe Gewalt erfahren von Menschen, die homophob waren, obwohl ich großes Glück hatte im Vergleich zu anderen und es blieb meist bei Sprüchen.

Wie hat Ihre Familie reagiert?

Ich habe es spät offen gesagt. Meine Eltern waren griechisch-orthodoxe Theologen an der Uni, sehr progressive Menschen, ich bin dankbar, dass ich diese Eltern hatte. Sie haben mich nicht als Mädchen erzogen, sondern als Wesen. Als das, was ich bin. So musste ich einige Kämpfe nicht mit mir führen. Wenn ich heute das Gefühl habe, ich bin ein Vogel, dann bin ich ein Vogel.

Haben Sie Griechenland wegen der größeren Freiheit für Lesben verlassen?

Nein. Ich hatte mich in eine Deutsche verliebt, die mir irgendwann sagte: Du musst Kunst studieren und nach Deutschland kommen, dann bleiben wir auch zusammen. Wir hatten zuvor in Athen zusammen mit zwei anderen Frauen in den 80er-Jahren eine kleine Kunstgruppe gegründet, und experimentierten mit Multimedia-Performances.

Wie sind Sie zur Performance gekommen?

Dieses im Hier und Jetzt zu sein, reizt mich und der Energieaustausch mit dem Publikum. In der Vorbereitung gehe ich Idee, Konzept und Gefühle zigmal durch und es kommt zu einer Essenz, die ich dann weitergebe. Es ist wie Schnaps, du destillierst, darum geht es.

Das hätte auch Ihre Lehrerin Marina Abramović sagen können, die Sie in Hamburg getroffen haben.

Da hatte ich, wie oft in meinem Leben, Glück. Es gab ein großes Plakat, „Marina Abramović hält einen Vortrag an der HfbK“, ich gehe dorthin und denke nach zwei Minuten: Ich muss zu ihr. Dann kam sie tatsächlich als Professorin hierher und ich habe mich erst einmal nicht getraut, weil ich ja nur meine Sachen machte und nicht Kunst. Meine damalige Freundin hat mich dorthin gezwungen und dann hat Abramović mich in die Klasse genommen.

53, Performance-Künstlerin, geboren in Thessaloniki, lebt seit 1989 in Hamburg. In Griechenland hat sie ein Studium der Biologie und eines der Restauration begonnen. In Hamburg studierte sie Visuelle Kommunikation an der HfbK, wo sie Schülerin der Performance-Künstlerin Marina Abramović war.

„Büro für öffentliche Entlastung“ heißt die Arbeit, die Tsanana für ein Performance-Festival in Athen geschaffen hat und zuletzt während der Altonale in Hamburg präsentierte. Dabei schreibt und malt sie Alpträume auf, die ihr die BesucherInnen erzählen. Anschließend radiert sie die Zeichnungen aus, die Radiergummikrümel sammelt sie in einem Behälter und wirft sie am letzten Tag der Performance in einen Fluss oder ins Meer.

Das ging so glatt?

Du musstest dich mit einem Projekt bewerben. In der Zeit experimentierte ich viel mit dem Sehen und dem Nicht-Sehen, ich ging mit Augenbinden und falscher Brille durch die Gegend. Am Ende sollte es eine Performance-Lecture geben. Ich weiß noch, wie ich zu ihr ging. Dabei war ich listig.

Listig?

Bei ihrem Vortrag hatte sie damit angefangen, dass sie als Kind von ihrer Oma mit in die orthodoxe Kirche genommen wurde. Dort roch es nach Weihrauch und sie verlor sich in diesem Geruch und in diesem Gesang. Das war mir als Kind genauso passiert. Was mache ich? Ich nehme Weihrauch mit zum Vorstellungsgespräch.

Hat es funktioniert?

Vor lauter Aufregung wurde mir schwindelig. Abramović sagte: Du musst etwas essen und gab mir eine Reiswaffel mit Honig. Da war es geschehen. Sie meinte: „Ich habe deine Bewerbung gelesen, das ist nicht Kunst, was du vorschlägst, aber ich mag dich. Du kommst in meine Klasse.“

Warum keine Kunst?

Es hat mich nicht gestört. Ich sagte zu Abramović: „Es wird sich entwickeln.“

Letztes Jahr sind Sie bei den schwul-lesbischen Filmtagen in Hamburg als Qualle aufgetreten.

Eigentlich war ich Adele Weiß. Das ist eine etwas verschrobene ältere Wissenschaftlerin, sie lebt für die Forschung, ihre Bereiche sind Kosmologie, Ornithologie und angewandte Phänomenologie. Sie folgt dem Bemühen um elegante Extravaganz des Geistes. Danach habe ich wieder etwas Ernstes gemacht: Ich beschäftige mich mit Zeit und Gedächtnis. Damit, dass man Vertrauen haben kann in das eigene Gedächtnis.

Dabei sind wir eine Gesellschaft, die alles festhalten will.

Wir wollen nicht sterben und wir wollen die Augenblicke behalten. Wir sammeln Beweise, dass wir gelebt haben. Die Erinnerungsstücke der Toten können sehr weh tun: Mein Vater hat sehr viele Dinge gesammelt, du sieht sie, sie schreien nach dem Menschen, der sich erinnerte und er ist nicht da. Die Arbeit dazu war die schwierigste und intensivste, die ich je gemacht habe: Ich habe drei Tage lang Erinnerungsstücke zerkleinert.