„Die Ordnung, die Gewalt verurteilt, beruht auf ihr“

Der Jurist Stefan Krauth hat über die Kritik des Rechts geschrieben. Im Interview erklärt er, warum er vorsichtig ist mit dem Vorwurf der „politischen Justiz“: Die Gewalt lässt sich vom Recht nicht trennen

Szenen vom G20-Gipfel: in der Sternschanze brennt eine Barrikade, dahinter werden Geschäfte geplündert Foto: Miguel Ferraz

Interview Jean Baeck

taz: Herr Krauth, in Hamburg sind die ersten G20-Gegner verurteilt worden. Besonders das erste Hafturteil wurde als relativ hart kritisiert, sogar von „politischer Justiz“ ist die Rede. Ab wann halten Sie diese Kritik für angemessen?

Stefan Krauth: Richter haben grundsätzlich ein sehr weites Ermessen bei der Strafzumessung, also der Höhe der Strafe. Zu sagen „Jetzt ist die rote Linie überschritten“ oder ab diesem oder jenem Punkt hätten wir eine politische Justiz, ist unglaublich schwer auszumachen.

Wie kommt es zu diesem Vorwurf?

Es gibt ein Unbehagen, das den Beobachter ergreift, wenn er vermutet, dass ein Urteil nicht auf der Anwendung des Rechts beruht, sondern die politische und persönliche Empörung des Richters da hineinspielt. Also ein Unbehagen, dass nicht die ordnungsgemäßen Gesetze, sondern die Menschen mit privaten Überzeugungen herrschen. Und das ist ja genau das, was gemäß der liberalen Theorie des Rechts nicht passieren sollte.

Es kann aber passieren.

Natürlich ist es interessant, wie dünn die zivilisatorische Decke der Strafjustiz ist und angesichts der öffentlichen Empörung die Regeln der Strafzumessung außer Kraft gesetzt werden. Richter haben in Deutschland eben sehr viel Macht und können eine Strafe ungewöhnlich hart ausfallen lassen. Das ist ein Einfallstor für „politische Urteile“.

Ist es ein Hinweis auf eine Vermischung von Politik und Justiz, wenn sich Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) damit zitieren lässt, er hoffe, dass es hohe Strafen gibt?

Wenn die Justiz funktionierte, würde sie diese Ansagen ignorieren.

Einige Richter sagten explizit, in ihren Urteilen keiner politischen Motivation gefolgt zu sein.

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Stefan Krauth, Jahrgang 1975, hat Jura in München und Berlin studiert und lebt in Ecuador. 2013 erschien sein Buch „Kritik des Rechts“

Das hört sich eher an wie der Dieb, der mit der Beute in der Hand ruft: „Ich war’s nicht!“ Aber mit dem Begriff „politische Justiz“ wäre ich dennoch vorsichtig, weil er ja impliziert, dass es so etwas wie unschuldige Strafjustiz gibt, die ausschließlich durch das Gesetz bestimmt wäre.

Durch was soll die Strafjustiz sonst noch bestimmt sein?

Unabhängig von der Skandalisierung offenkundiger Fälle der Politisierung der Justiz, wie gegenwärtig in der Türkei oder immer schon in den meisten südamerikanischen Ländern, stellt sich die Frage, ob die Rede von der „rule of law“ nicht immer schon in die Irre führt. Damit meine ich nicht die offenkundigen Fälle, sondern ein unverstandenes, verdrängtes Zen­trum inmitten des normalen, westlichen Rechtsstaats. Selbst in nicht-politischen, ganz alltäglichen Strafverfahren ist Nicht-Rechtliches maßgeblich.

Sie halten Rechtsstaatlichkeit für eine Ideologie?

Es gibt ja keine Kriminalität unabhängig von der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Diese ist hochgradig kreativ in einem bestimmten Sinne: etwa bei der Frage, welchem Verdacht nachgegangen wird und welchem nicht. Längst nicht alles kommt überhaupt in die Akten, nicht jeder wird befragt und andere werden von vornherein als Täter ausgeschlossen. Häufig sind es die Alltagstheorien der Polizei, die das Ermittlungsergebnis prägen. Es spiegelt wider, welche Bilder die Polizisten von den Tätern haben, und ist ein Ergebnis selektiver Wahrnehmung. Ein plumpes Beispiel: Wenn man alle Schwarzen in einem Bereich kontrolliert, wird man schon irgendwann finden, was man sucht. All das hat nichts mehr mit der „rule of law“ zu tun, mit der staatliche Gewalt überhaupt legitimiert wird, weil diese Selektivität eben keinem geschriebenen Gesetz folgt. Und so hat auch die Strafjustiz ein grundsätzlichen Legitimationsproblem. Man kann mit Walter Benjamin aber noch einen anderen Blick auf die Vorgänge um den G20-Gipfel werfen.

Nur zu!

Das, was Benjamin als „rechtssetzende und rechtserhaltende Gewalt“ bezeichnet hat, hilft beim Verständnis. Die Gewalt ist das, was das Recht einsetzt, ohne vom Rechtssystem begriffen oder verarbeitet werden zu können. Benjamin hat davon gesprochen, dass, wenn die Erinnerung an die Gewalt eines Rechtsinstituts verschwindet, auch seine Geltung verschwindet. Von daher kann sich eine rechtliche Ordnung nicht damit begnügen, „rechtsförmige“ Gewalt anzuwenden, sondern rekurriert gleichsam auf außerrechtliche Gewalt, also auf den Exzess, um seine Autorität wieder einzusetzen. Mit anderen Worten: Die rechtliche Ordnung basiert auf außerrechtlicher Gewalt und geht hin und wieder zu diesem ihrem notwendig verdrängten Ursprung zurück, um sich Geltung zu verschaffen.

In mehr als 2.000 Fällen ermittelt die Polizei wegen vermutlicher Straftaten während des G20 Gipfels. Gegen Polizistinnen richten sich die Ermittlungen in 98 Fällen, 32 davon wurden von Amts wegen eingeleitet und somit von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft selbst.Der große Rest der Ermittlungen betrifft Gipfelgegner, von denen 51 in Untersuchungshaft genommen worden waren.Seit Ende August stehen Gipfelgegner in Hamburg vor Gericht. Gegen PolizistInnen wurde noch keine Anklagen erhoben.Die Sachschäden nach dem G20-Gipfel beliefen sich nach ersten Schätzungen der Versicherer auf zwölf Millionen Euro. Im Entschädigungsfonds von Senat und Bund liegen 40 Millionen Euro bereit. Etwas mehr als ein Prozent dieser Summe wurde bisher bewilligt.

Sie reden vom Ausnahmezustand?

Genau. Ausnahmezustand kann man auch verstehen als die Anwesenheit von Nicht-Rechtlichem im Verhalten von Polizei und Justiz. Und das ist freilich höchst irritierend für die liberale Rechtstheorie. Die Idee vom Rechtsstaat ist mit dem Begriff der Demokratie untrennbar verbunden. Wenn wir nun aber den G20-Gipfel anschauen, springt uns das auf verschiedene Weise ins Auge. Die westliche Ordnung selber, die bei jeder Gelegenheit Gewalt salbungsvoll verurteilt, praktiziert diese nicht nur ganz offensichtlich selbst, sondern beruht auf ihr.

Was folgt aus dieser Erkenntnis?

Wenn man es ernst nimmt, würde das zu einer Delegitimierung von staatlichen Strafen führen.