Entmachtet Madrid die Autonomieregierung?
Trotz Aussetzung der Unabhängigkeit aktiviert Premier Rajoy den gefürchteten Verfassungsartikel 155

Befürworter der Unabhängigkeit lauschen der Rede ihres „President“ Carles Puigdemont Foto: Felipe Dana/ap

Aus Barcelona Reiner Wandler

Es war eine Achterbahn der Gefühle für die Tausende, die sich am Dienstagabend vor dem katalanischen Parlament versammelt hatten, um live dabei zu sein, wenn ihr „President“ Carles Puigdemont die Unabhängigkeit Kataloniens erkläre. „Hallo Republik“ lautete das Motto der Versammlung mit Großleinwand.

Und dann endlich kam der Satz, auf den sie alle gewartet hatten. Er, Puigdemont, nehme „das Mandat des Volkes“ an, dass Katalonien in Form einer Republik ein unabhängiger Staat wird“. Applaus, Jubel, Freude in den Gesichtern. Doch dann, nur wenige Sekunden später, das: „Die Regierung und ich schlagen vor, dass das Parlament die Auswirkungen der Unabhängigkeitserklärung aussetzt, damit wir in den kommenden Wochen einen Dialog führen können“, so Puigdemont. Wirkung auf die Anwesenden: wie ein Kübel kaltes Wasser.

„Ich bin richtig enttäuscht. Eine sofortige Unabhängigkeit wäre das gewesen, was es braucht“, sagt Dani Bueso, der eigens aus einer Vorstadt angereist ist. Er kann es immer noch nicht glauben. Irgendwann fügt er dann hinzu: „Ich verstehe allerdings auch, das unser Präsident einem enormen Druck ausgesetzt ist. Ich hoffe auf die maßvolle Antwort aus Madrid.“

„Wir lassen uns jetzt nicht spalten“, sagt Bueso weiter, als er erfährt, dass Kritik aus den eigenen Reihen nicht auf sich warten lässt. Sie kommt von der Jugend der antikapitalistischen Kandidatur der Volkseinheit (CUP), die Puigdemont ganz konkret „Verrat“ vorwirft. Sie wollen nichts wissen von Realpolitik angesichts der juristischen Drohungen aus Madrid, des Umzugs großer Unternehmen ins restliche Spanien oder von den Forderungen aus Europa, „nichts zu unternehmen, was nicht rückgängig zu machen ist“, wie dies EU-Ratspräsident Donald Tusk kurz vor dem Auftritt Puigdemonts formulierte. Sie wurden um ihren Traum von der freien Republik Katalonien betrogen.

Zu größeren Unmutsbekundungen auf der Straße kam es am Tag nach der Parlamentssitzung dennoch nicht. Stattdessen war der Mittwoch ein Tag gespannten Wartens. „Ein Dialog, wie ihn Puigdemont vorgeschlagen hat, wäre wichtig“, sagt eine Angestellte in einer Apotheke in Barcelona. Beim Bäcker der gleiche Ton. Alle schauen nach Madrid.

In der spanischen Hauptstadt trat dann um die Mittagszeit Ministerpräsident Mariano Rajoy nach einer Sondersitzung seines Kabinetts vor die Kamera – und machte den Wunsch von einem Dialog ohne Vorbedingungen zunichte. Seine Regierung habe den gefürchteten Artikel 155 der spanischen Verfassung aktiviert, erklärt er stattdessen. Dieser sieht vor, dass alle Befugnisse der Autonomieregierung außer Kraft gesetzt werden – und Katalonien von Madrid aus zwangsverwaltet wird.

30. September 2005: Das katalanische Parlament verabschiedet einen Vorschlag für ein neues Autonomiestatut.

18. Juni 2006: Das Statut wird von der Bevölkerung Kataloniens per Referendum ratifiziert, nachdem es vom spanischen Parlament angenommen wurde.

20. November 2011: Die konservative Volkspartei PP, die das neue Autonomiestatut ablehnt, gewinnt die spanischen Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit.

27. September 2015: Befürworter einer Unabhängigkeit Kataloniens gewinnen Wahlen zum katalanischen Parlament.

11. September 2017: Eine Million Menschen demonstrieren in Barcelona für das Selbstbestimmungsreferendum, das am 1. Oktober trotz Verbots durch Spaniens Verfassungs­gericht stattfindet. rw

In einem ersten Schritt dahin forderte Rajoy die Autonomieregierung Kataloniens förmlich auf, klarzustellen, ob die Rede Puigdemonts denn nun eine Unabhängigkeitserklärung darstelle oder nicht. „In der Antwort, die der Präsident auf diese Anfrage gibt, wird sich abzeichnen, was in den nächsten Tagen passiert“, mahnt Rajoy.

Der sozialistische Generalsekretär Pedro Sánchez, der bis um 1 Uhr in der Früh im Regierungspalast Moncloa weilte, erklärte, dass er Rajoys Vorgehen unterstützt, damit „Puigdemont schwarz auf weiß aufschreibt, was er erklärt hat“. Gleichzeitig versprach er auf eine Verfassungsreform hinzuarbeiten, um die territoriale Frage neu zu ordnen.

Ciudadanos, mit deren Chef Albert Rivera der Ministerpräsident zwei Mal lange telefonierte, besteht seit Tagen auf die Aussetzung der Autonomie Kataloniens mittels Artikel 155, um dann Neuwahlen in Katalonien auszurufen. „Dies ist ein Putsch. Niemand hat das Ergebnis des Referendums anerkannt. Niemand in Europa unterstützt, was Sie gemacht haben“, so Inés Arrimadas, Ciudadanos-Chefin in Katalonien, nach der Ansprache von Puigdemont. „Die meisten Katalanen fühlen sich als Katalanen, Spanier und Europäer“, fügte sie hinzu.

Einzig Unidos Podemos fordert nach wie vor einen Dialog ohne Vorbedingungen statt erneuter Machtdemonstrationen. Der Chef der Linksalternativen, Pablo Iglesias, lobte Puigdemont für seine Besonnenheit. Es gehe jetzt darum, im Dialog „die Katalanen zu verführen“. Für ihn ist Spanien „plurinational“, ein „Land der Länder“.

Rajoy und Sánchez sind nicht die Einzigen, die Zweifel an dem haben, was Puigdemont nun erklärt hat. Politiker aller Parteien und die Teilnehmer an den politischen Talkshows streiten sich darüber, ob Dienstagabend denn nun die Unabhängigkeit erklärt wurde – oder nicht. Denn das Verwirrspiel ist weit komplizierter als zwei Sätze aus seiner Rede.

Nach der Ansprache Puigdemonts unterzeichneten 72 Abgeordnete des Autonomieparlament eine Erklärung, in der sie keinen Zweifel an ihrem Willen ließen, eine katalanische Republik aufzubauen. „Wir konstituieren die Katalanische Republik, als unabhängigen und souveränen, sozialen, demokratischen Rechtsstaat. Wir ordnen das Inkrafttreten des Gesetzes zum juristischen und funktionalen Übergang der Republik an“, heißt es da unter Berufung auf das vom spanischen Verfassungsgericht ebenso wie die Volksabstimmung am 1. Oktober suspendierte Gesetzeswerk. Doch diese Erklärung bleibt unwirksam, da Puigdemont selbst in seiner Rede die Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung beantragte, um dem Dialog mit Madrid eine Chance zu geben. Außerdem wurde die Erklärung nicht offiziell eingereicht.

„Die meisten Katalanen fühlen sich als Katalanen, Spanier und Europäer“

Inés Arrimadas, Ciudadanos-Chefin in Katalonien

„Farce und Erpressung“, titelt die spanische Tageszeitung El Mundo. „Eine weitere Falle“ lautet die Überschrift des Leitartikels von El País. Die größte Tageszeitung des Landes spricht von „einem Ultimatum, das die Regierung auf keinen Fall akzeptieren kann“. Ganz anders das wichtigste Blatt in Katalonien, La Vanguardia: „Das Einzige, was sicher ist: Es gab keine einseitige Unabhängigkeitserklärung. Die Abenteurer, die dem Präsidenten (Puigdemont) ins Ohr flüsterten, haben nicht triumphiert“, schreibt der Kolumnist Enric Juliana.

Auch wenn die Unabhängigkeitserklärung so lange keine juristische Gültigkeit hat, bis sie offiziell beim katalanischen Parlament eingereicht wurde, dient sie durchaus als Drohkulisse. So kündigte der Sprecher der katalanischen Regierung, Jordi Turull, vor Rajoys Auftritt an: „Wenn sie den Artikel 155 anwenden, werden wir konsequent sein.“

Dass die Lage in den kommenden Tagen nicht einfacher werden wird, wissen alle – auch Dani Bueso. „Unser Präsident Puigdemont hat uns bis hierher gebracht, wir müssen ihm einfach weiter vertrauen“, erklärt er, bevor er nach der Ansprache sichtlich enttäuscht den Nahverkehrszug nach Hause in die Vorstadt nimmt.