Hemmungslos ausschweifend

PREMIERE An der Müchener Staatsoper hat Peter Sloterdijk für Jörg Widmanns „Babylon“ ein pompöses Libretto geschrieben

VON JOACHIM LANGE

Der Philosoph Peter Sloterdijk ist unzufrieden mit den heutigen Opernlibretti. Er bleibt aber nicht bei der Kritik, sondern hat jetzt selber eines verfasst. Was der Münchner Uraufführung von Jörg Widmanns „Babylon“ natürlich einen zusätzlichen Aufmerksamkeitsbonus sichert. Und weil an der Bayerischen Staatsoper nicht nur Kent Nagano, sondern auch das fabelhafte Orchester bewährte Könner auf dem Feld der Moderne sind und Regisseur Carlus Padrissa von La Fura dels Baus, Roland Olbeter (Bühne), Chu Uroz (Kostüme) und die Videofreaks von welovecode und Tigrelab mit einem bestens funktionierenden technischen Apparat ihre Vorstellung von großer Oper umsetzen konnten, ist ein gewaltiger Uraufführungskraftakt aus München zu vermelden.

Dabei geht der aus Funk und Fernsehen bekannte Philosoph genauso in die Vollen wie der Komponist. Das sagenhafte Babylon, das mit Turmbau und Sprachverwirrung im kollektiven Menschheitsgedächtnis verankert ist und ansonsten vor allem einen herzlich schlechten Ruf als Sündenbabel hat, wollten beide ins (ge-)rechte Licht rücken und das multikulturelle Fortschrittspotenzial dieser Mutter aller Urbanität zeigen. Und das im Kontext einer Weltordnung mit Göttern, Priestern und Riten, die für die Deutung der großen Katastrophen und die blutigen Opfergaben zuständig sind.

Dieser Zugriff ist bei Sloterdijk natürlich nicht unter der planetarischen Dimension von Ordnung und Chaos, dem zivilisationsvernichtenden Ausmaß einer Sintflut, Septetten aus Planeten, Phalloi und Vulven, einem personifizierten Fluss Euphrat und einer ebenso personifizierten Seele zu machen.

Neue Weltordnung

Neben all den Babyloniern und Juden, deren Sprachverwirrung sich dann selbst als Keilschrift in den Übertiteln wiederfindet. Auch die genrebedingte Lovestory zwischen Inanna und Tammu hat nichts Kleinteiliges. Sie ist als babylonische Priesterin auch praktisch für die (freie) Liebe zuständig. Er ist als jüdischer Exilant ein Liebling des Priesterkönigs, dem er (wie Joseph dem Pharao) die Träume deutet. Demzufolge ist er die erste Wahl für das Menschenopfer, mit dem gut babylonisch die Weltordnung zwischen Menschen und Göttern neu besiegelt werden soll, während die Juden gerade den Fortschritt zum Tieropfer in ihrer Heiligen Schrift verankert haben.

Es bleibt freilich nicht beim dadurch möglichen Ausflug von Inanna in die Unterwelt, um Tammu (ohne den Blick von ihm zu lassen) wieder nach oben zu holen. Die beiden verziehen sich gleich noch per Raumschiff ins Sonstwohin. Vielleicht trauen sie ja auch der neuen harmonischen Zeit- und Weltordnung nicht über den Weg. Der Turm jedenfalls kracht am Ende zusammen (mit einem Schutznetz für den Graben). Das Nachspiel ist dem Skorpionmenschen in rauchenden Trümmerlandschaften vorbehalten: Als selbstreferentiellem Schlusspunkt eines „Alles auf Anfang“, mit dem der wortgewandte deutsche Philosoph mit dem Hang zur griffigen Pointe und der gedanklichen Neuordnung der Welt aus dem Gedankenblitz heraus das Ganze beschließt und offenhält. Was freilich bei der Lektüre vielschichtiger und poetischer wirkt als auf der Bühne.

Widmanns Musik lässt sich hemmungslos ausschweifend auf dieses vorgegebene kosmische Schrittmaß ein. Mit Sängerfutter für sein Liebespaar (Anna Prohaska überzeugt als Inanna, Jussi Myllys stemmt sich als Tammu gegen die Orchesterwucht) und die Chöre. Mit kosmischem Lärm und feinen Melodien, mit sporadisch aufblühendem Orchester und Soloakzenten. Das Spiel mit der Ironie von Zitaten findet sich wie im Text so auch in der Musik. Ob nun das musicalangehauchte „Wo du hingehst, da geh auch ich hin“ der Liebenden oder das deftige Einbrechen von Bruchstücken des Bayerischen Defiliermarschs in den babylonischen Karneval. Bei alldem macht sich in diesem Ozean der Klänge meist ein Unterstrom bemerkbar, der auf ein Finale der Harmonie aus ist, was verblüffenderweise dann auch beinahe eintritt. Aber die Inszenierung von Carlos Padrissa setzt das Kraftvolle und Vielschichtige der Musik leider nicht in einen produktiven Kontrast zu den teils revueartigen, teils technisch ausgetüftelt wirkenden Bildern, sondern sie schließt beides kurz, was Schwächen eher betont, als sie auszugleichen. Und die liegen in der Maßlosigkeit, die sowohl dem Libretto als auch der Musik eingewoben sind. Dass ein babylonischer Karneval nach Oktoberfest klingen könnte, darauf wäre man außerhalb Münchens nur schwer gekommen. Es hat aber Witz. Ernüchternd sind die mit der Putzigkeit einer mittleren Zauberflöte gesprochenen Passagen. Grandios wird es, wenn Gabriele Schaut mit all ihrer hochdramatischen Wucht als Euphrat über die Ufer tritt. Im günstigsten Fall gibt es Überwältigungsbilder mit viel Projektion, der Rest ist Rampe. So bleibt es bei einer Uraufführung am Tag, als Hans Werner Henze starb. Und nicht umgekehrt.