Risse im Prachtbau

Wenn Sänger und Orchester gemeinsam von der Tonleiter stürzen: Die Staatsoper Unter den Linden zeigt mit „Seven attempted Escapes from Silence“ nach kurzen, albtraumartigen Texten von Jonathan Safran Foer erstaunlich viel Mut zum Experiment

von MARTIN SCHNEIDER

Paukenschläge zerreißen die Stille. Gleichmäßig und dumpf hämmern sie in die Dunkelheit hinein. Unmerklich spannt sich zwischen diese Pfeiler das Sirren hoher Geigentöne. Aus dem Bühnenhintergrund erklingen ferne Stimmen. Ihr Gesang versucht, auf der schmalen und fragilen Brücke Halt zu finden, die ihm das Orchester musikalisch baut. Die Umrisse der vier Sänger werden sichtbar, sie sind ganz in Schwarz gekleidet. Langsam, in kleinen Schritten, treten sie nach vorne. Über ihnen thront eine Frau, sie scheint in einem Kasten zu schweben. Mit schneidender Stimme begleitet sie den Gang der Sänger: „Did you escape? Did you pass through a door that couldn't be opened?“ Wenn die Sänger nicht singen, blicken sie entsetzt und reißen den Mund weit auf: Sie versuchen, der Stille zu entfliehen, eine musikalische Sprache zu finden.

„Seven attempted Escapes from Silence“, ein siebenteiliges Opernexperiment, feiert Premiere an der Staatsoper unter den Linden. Es ist erfreulich, dass die Berliner Opern den Mut haben, in Avantgarde zu investieren. Bereits am 7. September wurde Isabel Mundrys „Ein Atemzug – Die Odyssee“ an der Deutschen Oper uraufgeführt und von Publikum und Kritik gefeiert. Und im Januar nächsten Jahres wird die Staatsoper mit „Faustus, the last night“ von Pascal Duscapin eine weitere Auftragskomposition inszenieren.

Doch zunächst will „Seven attempted Escapes from Silence“ die Grenzen des Genres Oper abtasten und ausdehnen. Jonathan Safran Foer, junger Hoffnungsträger der US-Literatur, hat das Libretto geschrieben. Es besteht aus sieben Fragmenten. Jedes von ihnen wurde von verschiedenen Komponisten und Regisseuren vertont und in Szene gesetzt. Jegliche Illusion künstlerischer Einheit wird so bewusst zerstört. Musik, Text und Bühne reiben sich an diesem Abend unaufhörlich aneinander und lassen so die Brüche und Risse, die den klassischen Prachtbau Oper durchziehen, sichtbar werden.

Das Magazin der Staatsoper dient dabei als Versuchslabor, es ist an diesem Abend im besten Sinne Werkraumtheater. Am einen Ende der länglichen Halle sitzt, dicht gedrängt, das Publikum. Ihm gegenüber spannt sich ein quadratischer Boden auf, der über einem Abgrund zu schweben scheint. Zwei Wände sind dahinter zu sehen, die an den seitlichen Galerien durch Rollen befestigt wurden. Die Bühnenelemente werden im Lauf des Abends unaufhörlich hin und her bewegt und mit Lichtprojektionen umgedeutet.

Safran Foers Libretto entwirft sieben kurze und skurrile Albträume. Sie handeln alle von vergeblicher Flucht und sind nur assoziativ miteinander verbunden: Eine „Authority“ gibt es da, die einmal als herrischer Zirkusdirektor, einmal als plastiktütenbehangener Kapitalismuszombie in Erscheinung tritt. Dieses gestaltwechselnde Überich kommentiert zynisch die sinnlosen Fluchtbewegungen der Sänger. Wem oder was diese zu entkommen versuchen, bleibt oft unklar: Sie tragen in einer Szene Hochzeitskleider und rennen, da die Wand unaufhaltsam auf sie zurollt, wie aufgescheuchte Hühner durcheinander; in einer anderen hängen sie an Seilen, als wären sie zum Tod durch den Strick verurteilt.

Besonders eindrucksvoll gelingt die sechste, „Imposters“ betitelte Szene. Der Regisseur Xavier Le Roy lässt die Sänger vor ihrem Dasein als Sänger fliehen. Sie ziehen sich ins Publikum zurück, versuchen mit ihm Kontakt aufzunehmen. Doch schon rollt die Wand an, auf die Dirigent Max Renne überdimensional groß projiziert wird. Er ist nun die Authority, vor der die Sänger nicht fliehen können. Trotzdem versuchen sie es: „I want to abandon hope …and fly!“ Zu diesen Worten klettern Sänger und Orchester Stufe für Stufe die Tonleiter nach oben, nur um am höchsten Punkt wieder hinunterzufallen. Komponist Bernhard Lange hat hier die Möglichkeiten der schmalen, 15-köpfigen Orchesterbesetzung überzeugend genutzt.

Doch auch der sechste Fluchtversuch scheitert, deshalb ergibt sich die Oper in der letzten Szene der Stille. Die Musik verstummt, und in großen Lettern ist zu lesen: „Good evening, ladies and gentleman. My name is silence. Can you hear me?“