„Für mich ist Berlin die Alternative zu Deutschland“

Der Illusionist Yadegar Asisi lässt lange versunkene Städte wiederauferstehen: in Berlin zuerst das antike Pergamon, nun Kreuzberg zu Mauerzeiten. Mit viel Liebe zum Detail und modernster Digitaltechnik montiert er begehbare Panoramen. Der 57-Jährige greift dabei gern auf Persönliches zurück. „Meine Erinnerung“, sagt er, „ist sehr lebendig“

■ Der Mensch: Der 57-Jährige hat Architektur in Dresden und Malerei in Westberlin studiert. Bis 2008 war er Professor an der Technischen Fachhochschule Berlin.

■ Der Mauerkünstler: 1986 bemalte er die Mauer an der Waldemarstraße so, dass man die Michaelkirche in Mitte sehen konnte, die zum Teil von der Mauer verdeckt war. Ein Stück dieses Abschnitts steht heute im Vatikan.

■ Der Panoramakünstler: Seit 1994 erstellt Asisi Panoramen. Zuletzt zeigte er den Pergamonaltar und dessen Umgebung in einer Rotunde vor dem Pergamonmuseum. Panoramen in Dresden und Leipzig zeigen das barocke Dresden und den Amazonasurwald. Das Mauerpanorama am Checkpoint Charly ist täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Eintritt: 10 Euro. Infos und Tickets: www.asisi.com

INTERVIEW GEREON ASMUTH
FOTOS DAVID OLIVEIRA

taz: Herr Asisi, 1989 ist die Mauer gefallen. Ein Jahr später war sie schon nahezu vollständig abgerissen. War das ein Fehler?

Yadegar Asisi: Nein. Damals haben wir ja nicht an Denkmalschutz gedacht.

Aber aus heutiger Sicht bedauern Sie den Abriss?

Ja, es gibt zwar die Gedenkstätte in der Bernauer Straße. Aber das Stück ist vielleicht zu kurz, um die Situation vor dem Mauerfall noch zu verstehen.

Sie haben die Mauer nun wieder aufgebaut – als überdimensionales Panoramabild. Es zeigt den Todesstreifen, die Wachtürme und die Grenzer. Vor allem aber zeigt es das Leben vor der Mauer auf der Westseite.

Ich wollte zeigen, wie sehr man sich im Westen mit der Mauer eingerichtet hatte. Wie selbstverständlich das war. Ein Freund von mir wohnte damals in der Sebastianstraße, das ist die Straße, die jetzt auf dem Panorama zu sehen ist. Ich sehe noch vor mir, wie ich bei ihm in der Küche sitze und im Kaffee rühre, während gegenüber der DDR-Soldat auf dem Wachturm steht. Das war erschreckend normal.

Nicht ganz so normal war ein spezieller Freiraum, den es so nur im Westberliner Schatten der Mauer gab. Sehr zentral in Ihrem Bild steht zum Beispiel ein besetztes Haus gleich neben einer Wagenburg.

Auf der einen Seite sind Menschen eingesperrt – aber dadurch entsteht ein gesetzloses Feld im Schatten der Mauer, das andere nutzen, um ihren Lebensstil zu verwirklichen. Daneben zeige ich junge Leute, die gerade in ein Haus einziehen, ich zeige mich auch selbst, wie ich an der Mauer male. Ich wohne seit den 80er Jahren im Norden von Kreuzberg. Wir haben da gesoffen in der „Henne“, direkt an der Mauer. Das war das ganz normale Leben.

Sie zeigen das auch durch Zigarettenwerbung mit dem Camel-Cowboy oder einem Plakat, das ein David-Bowie-Konzert ankündigt. Haben Sie solche Details recherchieren müssen?

Nein, meine Erinnerung ist sehr lebendig, ich bin ja ein Bildmensch. Aber ich hab mich da auch nicht kirre machen lassen. Es ist ja nicht so, dass jedes einzelne Haus genau so da gestanden hat, jedes Auto genau zu dem Zeitpunkt gefahren ist wie auf dem Bild …

aber man hat den Eindruck.

Das soll man auch. Das Bild ist nicht dokumentarisch, hat aber eine atmosphärische Dichte. Kein Roman, kein Film arbeitet mit dokumentarischer Authentizität, sondern baut eine Geschichte drum herum, die hoffentlich das trifft, was die Zeit ausgemacht hat.

In Ihrem Mauerpanorama sind nicht nur die Besucher Zuschauer. Auch die Figuren sind Beobachter. Die Grenzsoldaten auf der einen Seite, Mauertouristen auf der anderen. Warum ist Ihnen Sehen so wichtig?

Ich komme zu dem, was ich bin, weil ich seit meiner Kindheit zeichne. Ich betrachte die Welt zeichnerisch. Kinder vollbringen bis zum sechsten Lebensjahr die komplexeste Gehirnentwicklung. Sie kriegen das nur hin, weil sie sehen, weil sie beobachten, nachmachen. Eins der ganz großen Vergnügen in den Panoramen ist es, wieder zu begreifen, dass man selbst Regisseur des eigenen Sehens ist. Ich bestimme, ob ich eine Stunde hingucke oder nur zwei Sekunden. Es gibt eine ungemein meditative Ebene da drin. Manche Leute bleiben haften und sagen: Ich will jetzt einfach in diesem Raum bleiben.

Der Besucher sieht ein Foto im Kinoformat. Sie selbst bezeichnen sich als Maler – dabei arbeiten Sie mit der Kamera statt mit dem Pinsel.

Ich bin Maler, weil jeder Punkt, den Sie auf diesem Bild sehen, durch meine Hand gegangen ist.

Was heißt das genau: Sie fotografieren einzelne Leute und setzen sie wie ein Mosaik zusammen?

Ja, aber versuchen Sie das mal! Sie werden das nicht hinkriegen. Denn in jeder Entscheidung, die Sie setzen, müssen Sie über Farbe, über Perspektive nachdenken. Über die Komposition des Bildes. Manchmal denke ich, hier muss noch ein dunkler Punkt hin, für die Dramatik. Das ganze Lichtkonzept ist erfunden. Die Realität ist immer stärker, ich kann die Realität nicht toppen. Aber als Künstler darf ich so überhöhen, dass das Empfinden von Realität durch die Überhöhung rüber kommt. Das ist der Realismus. Man muss einen Augenblick suchen, der so in der Realität gar nicht möglich ist.

Und den setzen Sie dann am Computer zusammen?

Natürlich. Wenn ich die elektronische Fotografie nicht hätte, könnte ich solche präzisen Bilder gar nicht machen. Aber beim Aufbau gehe ich sehr, sehr malerisch ran. Und im Vorfeld wird viel gezeichnet. Die erste Ölskizze hatte fast schon die Erscheinung von dem, was Sie jetzt im Panorama sehen.

Vor einer Eckkneipe lehnt ein Mann an einer Telefonzelle und kotzt. Sammeln Sie erst solche Detailgeschichten, um sie später im Bild zu platzieren?

Kommen Sie, ich zeige Ihnen was (geht zu einer Skizze an der Wand). Das ist eine der ersten Ideenskizzen. Und da hab ich hier schon mal an den Rand geschrieben, welche Szenen ich unterbringen möchte.

Eine lange Liste: die Tankstelle, die Wurstbude, ein Polizist …

Ja, und daraus baut sich das Bild auf. Erst mal war mir wichtig: Wie zeige ich die Enge der Stadt. Und wie öffne ich dann Sichtachsen, um die vielen kleinen Geschichten zu erzählen, damit ich sie rein dramaturgisch unterbringe. Sehen Sie hier: In dieser frühen Skizze war das besetzte Haus noch hier vorne. Dann hab ich gesehen, ich brauch da aber Platz, um hier eine Geschichte zu erzählen …

für die Wagenburg. Da haben Sie das Haus in der nächsten Zeichnung einfach verschoben?

Ja, ich konstruiere mir das so, dass es passt.

Apropos Konstruktion. Der Besucher in der Rotunde erlebt eine Art 3-D-Effekt. Können Sie dem Laien in einfachen Sätzen das Geheimnis des perspektivischen Zeichnens erklären?

Nein, da bräuchte ich zwei Stunden dazu. Und das ist schon knapp bemessen.

Also ist das so kompliziert, wie man vermutet?

Setzen Sie sich in eine Glaskiste auf den Alexanderplatz. Dann malen Sie alles, was Sie draußen sehen, innen auf das Glas. Um das große Hochhaus zu zeichnen, kommen Sie irgendwann an die Decke, da muss der Pinsel um die Ecke fahren. Wenn Sie später Ihren Standpunkt verlassen, sehen Sie den Knick. Bleiben Sie aber auf dem Punkt, von dem Sie gemalt haben, sehen Sie eine kontinuierliche Linie. Wenn Sie dann die ganze Kiste zugemalt haben, können Sie sie in den Wald stellen, das Licht anmachen und schon stehen Sie wieder auf dem Alexanderplatz.

Klingt einfach.

Ja.

Nur dass Sie nicht mit einer Glaskiste arbeiten.

Nein. Das ist ja Geometrie. Wenn man das einmal begriffen hat, kann man sich das auch ausdenken. Wichtig ist: Die Idealform für die Präsentation ist der Zylinder. Der gibt dem Menschen den 3-D-Effekt.

Die Panorama-Rotunde ist eine Erfindung aus dem 18. Jahrhundert. Sie galt damals als eines der ersten Massenmedien …

Als das erste Massenmedium!

Genau deshalb wird sie aber auch bis heute schnell als Rummelattraktion abgetan.

Dieser Beigeschmack kommt noch aus den Anfängen der Illusionsmalerei. Aber schauen Sie sich mal diese beiden Zeichnungen an.

Die eine zeigt den Fries des Pergamonaltars, so wie man ihn im Museum sieht: Den Figuren fehlen Arme, Beine, Köpfe. Auf der anderen haben Sie den Fries rekonstruiert, so wie er kürzlich in Ihrem Pergamon-Panorama zu sehen war.

Ja, um zu zeigen, wie der Pergamonaltar aussah, musste ich das vervollständigen. Die Wissenschaftler hatten gesagt, das schafft du sowieso nicht, diesen hellenistischen Duktus. Aber ich kann ja alles zeichnen, was ich will. Wenn Sie so wollen, ist auch das eine Illusion. Aber weil ich es hier mit einem Fries zu tun habe, der in den höheren Weihen der Kunst schon etabliert ist, würde man nie darauf kommen, das als populistisch abzutun.

Sie sind also eine Art Illusionist. Ihre Mauer-Rotunde steht nun am Checkpoint Charlie, wo es vor Illusionisten nur so wimmelt: Kostümierte Grenzer mit falschen Stempeln neben der Kopie eines Kontrollhäuschens. Fühlen Sie sich da wohl?

Ich hatte letztes Jahr öffentlich gemacht, dass ich ein Grundstück suche. Eigentlich wollte ich in die Nähe von dem Ort in Kreuzberg, den das Panorama zeigt. Aber Sie wissen ja, wie kompliziert es ist, etwas im öffentlichen Raum zu machen. Und dann rief mich ein Vermittler an, der die Eigner dieses Grundstücks am Checkpoint Charlie vertritt. Da dachte ich, das ist eine echte Herausforderung. Denn es wird ja seit Längerem diskutiert, an diesem Ort etwas zu seiner Geschichte zu machen. Ich wollte sehen, ob mein Panorama ein Beitrag dazu sein könnte. Aber neben den ganzen Verkäufern als Künstler zu bestehen, ist kompliziert. Da kommt sofort der Vorwurf: Der Asisi will ja auch nur abkassieren.

Das ist Ihr Risiko.

Ich will das Wort Risiko gar nicht verwenden, ich denke nicht in dieser Kategorie. Weil ich das Panorama ja will. Ich muss es ja sowieso machen. Und was soll schon passieren? Man geht pleite – aber dann hat man es wenigstens versucht.

Sie haben schon ganz andere Sachen versucht. Sie sind als Kind eines persischen Kommunisten in der DDR aufgewachsen, dann in den Westen gegangen.

Mein Vater war in der persischen Armee in einer illegalen Zelle. Als der letzte Schah an die Macht kam, wurde mein Vater verraten und sechs Monate vor meiner Geburt wegen Hochverrats zusammen mit 20 weiteren Offizieren hingerichtet. Die sozialistischen Staaten haben deren Frauen dann Asyl angeboten.

Sie sind deshalb in Leipzig groß geworden, haben in Dresden Architektur studiert. Ein echter DDR-Bürger?

Wenn Sie so wollen, ja. 23 Jahre habe ich dort gelebt.

Waren Sie der DDR dankbar?

Ja. Wenn die DDR nicht gewesen wäre, wäre ich nicht der Mensch, der ich bin. Natürlich gab es da üble Propaganda. Aber für mich als Kind waren wir die Guten. Und die anderen die Bösen.

„Ich wollte zeigen, wie sehr man sich im Westen mit der Mauer eingerichtet hatte. Wie selbstverständlich das war“

Dennoch sind Sie unmittelbar nach Ihrem Studium nach Westberlin gegangen. Warum?

Ich hatte einen Brief gekriegt. Darin stand, ich hätte vier Wochen Zeit, die DDR zu verlassen. Das waren ja Kontrollettis. Nur uns Emigranten hatten die nicht ganz im Griff, deshalb wollten die uns loswerden.

Was ist das für ein Gefühl, wenn man aus dem Land, in dem man aufgewachsen ist, rausgeschmissen wird?

Nicht so dramatisch, wie Sie denken. Ich hatte immer den Plan, dass ich nach dem Studium gehe. Ich bin groß geworden mit dem Gedanken, dass ich irgendwann zurück in die Heimat gehe.

Und das war der Iran, obwohl Sie da nie waren?

Das Gefühl war durch meine Mutter aufgebaut. Deshalb bin ich auch 1979, als im Iran die Revolution kam, sofort für ein Jahr dahin gegangen.

Warum sind Sie dort nicht geblieben?

Ich bin wohl doch eher Europäer, Deutscher, als dass ich in so einem Land leben könnte.

Woran machen Sie das denn fest?

Ganz einfach: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau zum Beispiel ist dort für mich überhaupt nicht tragbar. Das andere ist die Art und Weise, wie die miteinander umgehen. Die Mentalität, die Höflichkeit. Und die Art, sich offen ins Gesicht zu lügen. Das ist dort nichts Schlechtes. Aber ich bin da fast kaputtgegangen.

Aber Westberlin war für Sie als gelernter DDR-Bürger dann kein Problem?

Überhaupt nicht. Bis heute nicht. Für mich ist Westberlin die Alternative zu Deutschland. Die Form des Nebeneinanders, das passt mir total. Hier kann jeder nach seiner Facon leben. Eigentlich ist Berlin eine Modellmetropole der Zukunft. Sie hat eine der fantastischsten Strukturen in der Welt.

Inwiefern?

Ich glaube, eine Metropole hat eine endliche Größe. Berlin hat fast vier Millionen Einwohner, das kann man noch organisieren. Zudem ist Berlin aus seiner Geschichte heraus dezentral, wir haben viele Städte hier, wir haben das Ländliche, das Hochstädtische, das Bürgerliche, das Alternative.

Kann man voraussagen, wie die Metropole sich entwickeln wird?

Ich sammle gerade Ideen für ein Panoramaprojekt Utopia. Das kann aber noch zehn Jahre dauern. Denn das ist ganz kompliziert. Diese ganzen Städte aus Science-Fiction-Romanen und Filmen, das sind alles Moloche, Katastrophen, das ist ziemlich einfach zu zeichnen. Aber versuchen Sie mal ein Modell der Zukunft zu entwickeln, wo Sie sagen, da würde ich in 200 Jahren gern drin leben.

Können Sie ein Ding nennen, das in diesem Utopia-Panorama zu sehen sein muss?

Nein. Sie müssen sich mit dem Menschen beschäftigen, vom Einkaufen bis aufs Klogehen. Sie müssen fragen, was macht den Menschen in dieser Zeit aus? Sie müssen über Lebensqualität reden, über Lebensglück, über Gesellschaftsformen. Ich sag immer: Ich will geliebt werden, ich will lieben, ich will was in den Bauch kriegen. Und ich will ein Dach überm Kopf. Wenn wir das in einer Stadt realisieren können, haben wir schon ganz viel geschafft.