Der Sprachschaden

LEXIKON Sind finanziell Schwache sozial schwächer als finanziell Starke? Über einen zu oft gebrauchten Begriff

In politischer Hinsicht bringen die „finanziell Schwachen“ dem Staat nicht nur nichts ein, sie kosten sogar

VON HELMUT HÖGE

Der Begriff „sozial Schwache“ verdankt sich einer Bedeutungsverdrehung, wie sie zuvor das Wortpaar Arbeitnehmer-Arbeitgeber erlebt hat. Sozial schwach sind die sogenannten Arbeitgeber/Unternehmer/Manager, insofern sie für ihre gesellschaftliche Teilhabe leichten Herzens jeden Preis zahlen können, was den Armen unmöglich ist, die ihre ökonomische Schwäche deswegen mit „sozialer Stärke“ zu kompensieren suchen.

In der Presse hört sich das so an: „Sozial schwache Familien sind grundsätzlich kinderreicher als Familien von Intellektuellen.“ Vor allem an der Mittelschicht bemerkt man derzeit, dass sie sozial schwach wird. Man spricht dabei von „Brasilifizierung“ und einem gesellschaftlichen Entsolidarisierungsprozess, der sich öffentlich in wachsender Ausländerablehnung zeigt – und betriebsintern in der Zunahme von Mobbing. Das wird neuerdings sogar an den Unis gelehrt – bis in den Neodarwinismus der Naturwissenschaften und der Isolation eines Erfolgs-Gens im Labor. So berichtete eine Studentin aus einem BWL-Seminar der Elite-Universität Viadrina in Frankfurt/Slubice: „Neulich sagte der Professor zu uns: ,Wenn ich andern Gutes tue, tu ich mir selbst nichts Gutes…‘ Und alle haben das brav mitgeschrieben!“ Sie waren zuvor mit blödsinnig-verschulten Bachelor- und Master-Studiengängen gefügig gemacht worden – und hofften bloß noch, endlich eines dieser albernen schwarzen Hütchen mit Bommel tragen zu dürfen, das sie dann vor lauter Freude kollektiv in die Luft werfen. So werden äußerst sozialschwache „Eliten“ erzogen.

An Versuchen, die Armen und Verarmten, die Unterschichtsangehörigen, Hartz-IVler und Zuverdiener anders als „sozial Schwache“ zu bezeichnen, hat es nicht gefehlt. Aber auch der Begriff „bildungsferne Schichten“ etwa führt in die (soziologische) Irre, denn die so Genannten können sich schlicht die meisten Kulturangebote nicht leisten.

Es bleibt dabei: „Das war aber eben etwas unsozial“, wie kürzlich eine Frau in der Berliner U-Bahn zu ihrer Freundin sagte, als diese dem krank aussehenden Verkäufer der Obdachlosenzeitung Motz weder ein Heft abkaufte noch ihm etwas Kleingeld gab, sondern bloß unwillig den Kopf schüttelte. Sie antwortete: „Es gibt eben Tage, an denen ich sozial schwächle. Na und?“ Das umgekehrte Syndrom läuft auf Hypersozial-Tun hinaus: Später, diesmal am S-Bahnhof, begrüßte mich ein Treuhand-Manager, der inzwischen einen gut bezahlten Job in Potsdam hat und auch dort wohnt. „Ich weiß gar nicht, was Sie gegen die erhöhten Fahrpreise der Berliner Verkehrsbetriebe haben“, meinte er, obwohl ich nichts Diesbezügliches gesagt hatte.

Vielleicht machte er mich für die Kritik an der neoliberalen Verkehrspolitik der taz, die auch meine Texte gelegentlich veröffentlicht, mitverantwortlich? Er erklärte mir: „Mein Wagen ist gerade in der Reparatur und ich bin heute ausnahmsweise mal mit der S- und U-Bahn in die Stadt gefahren. Das war ja soo interessant. Diese ganzen Leute! Dafür hätte ich gut und gerne auch zehn Euro bezahlt.“

Das war in Wirklichkeit sozial schwach gedacht. Diese Schwäche hat im Übrigen bereits eine Hamburger Lehrerin der Bankierstochter und späteren Treuhandchefin Birgit Breuel in der zehnten Klasse vorgeworfen, wie der Spiegel 1991 herausfand.

Von „sozial schwächeln“ redeten auch die Mitarbeiter einer ehrenamtlichen Tafel im Westen, wenn sie die Mitarbeiter der ostdeutschen Tafeln, die „ihre Armen“ ebenfalls mit Essen versorgen, meinten, da diese das nur so lange machen würden – bis ihre ABM-Stelle auslaufe. So charakterisiert man daneben aber auch und vor allem die mit der Staatsverschlankung einhergehenden Gründungen von „Freien Trägern“ für soziale Einrichtungen, denen primär daran gelegen ist, sich erst einmal selbst zu „tragen“. Ähnliches gilt auch für die privatisierten Sozialwohnungs-Baugesellschaften – sie wurden und werden zunehmend asozialer: Kein Tag, an dem nicht irgendein Teil ihrer Mieter über horrende Mehrkosten klagt, die plötzlich fällig werden.

„Ich weiß ja nicht, was Sie gegen die erhöhten Fahrpreise der U-Bahn haben“, meinte der Treuhand-Manager

Auf gutefrage.net wird behauptet, sozial Schwache, das sei ein politischer Begriff, „finanziell Schwache“ wäre richtiger. Ob die „finanziell Starken“ dafür „sozial schwächer“ als die „finanziell Schwachen“ sind, die jetzt noch als die „sozial Schwachen“ gelten, blieb in diesem Internetforum ungeklärt. Die „finanziell Schwachen“ sind es auch in politischer Hinsicht, da sie dem „Staat“, laut Nietzsche „dem kältesten aller kalten Ungeheuer“, nicht nur nichts einbringen, sondern ihn unter Umständen sogar noch was kosten. Der Umgang mit ihnen in den neoliberal durchseuchten Ämtern und Behörden wird deswegen zunehmend „sozial schwächer“. „Die Konflikte häufen sich“, wie es in der Presse heißt.

In der Badstraße des Berliner Bezirks Wedding, die im deutschen Monopoly-Spiel als Einkaufsstraße der Ärmsten fungiert, fragte ich einen der vielen dort bettelnden Roma, ob er nicht in den Flaniermeilen der Reichen, auf dem Kurfürstendamm oder in der Friedrichstraße, mehr Erfolg haben würde. „Da gibt einem doch niemand was. Völlig aussichtslos!“, antwortete er. Das erinnerte mich an eine Bemerkung des „Anti-Nazi-Activist“ Oskar Huth, der während der Nazizeit sechzig in Berlin versteckte Juden mit Lebensmitteln versorgte. In seinem „Überlebenslauf“ schrieb er: „Wer wirklich Leute versteckte, das waren die Proletarier untereinander. Die Ärmsten halfen den Armen. Und die Leute, die wirklich Möglichkeiten hatten – da war nichts, gar nichts.“

Ähnlich drückte sich die Witwe Schickedanz aus, eine der reichsten Frauen Deutschlands, als man sie nach der Entstehung ihres Vermögens fragte: „Wir habbit nich vom Ausjebe, sondern vom Behalte!“ Richtiger wäre gewesen zu erwähnen, dass ihr Vater Gustav Schickedanz das Vermögen seines „Quelle“-Imperiums großenteils durch die Arisierung jüdischen Vermögens erwarb. So äußerte zum Beispiel Oskar Rosenfelder, bis 1934 Besitzer der Vereinigten Papierwerke Heroldsberg, mit der eingeführten Taschentüchermarke „Tempo“: „Gustav Schickedanz [konnte] die Aktienmajorität völlig unentgeltlich in seinen Besitz bringen, ja darüber hinaus sogar einen erheblichen, seinerzeit so genannten Arisierungsgewinn erzielen …“ Der „Nazi-Activist“ Schickedanz wurde deswegen Ende 1945 erst einmal mit Berufsverbot belegt und als Hilfsarbeiter zwangsverpflichtet.

Er hatte sich vor allem deswegen in der NSDAP engagiert, weil ihn deren Darwinismus, der in Eugenik und Euthanasie gipfelte, ansprach. Darwin hatte in seiner Evolutionstheorie den Populationsbegriff und die Idee der Konkurrenz als treibende Kraft der Evolution von Thomas Malthus übernommen. Der Nationalökonom Malthus hatte berechnet, dass die Bevölkerungszahl exponentiell steige, die Nahrungsmittelproduktion in derselben Zeit aber nur linear. Die erheblichen sozialen Probleme seiner Zeit betrachtete Malthus in erster Linie als Folgen einer zu großen Bevölkerung. Er empfahl, die Armenhilfe einzuschränken; sie sei wider die „Naturgesetze der Ökonomie“. Denn direkte Hilfe würde seiner Meinung nach die Armen nur ermutigen, noch mehr Nachkommen zu zeugen – und so neue Armut schaffen. „Damit leitete er einen Wandel in der britischen Armenpolitik ein: weg von Almosen, hin zu Zuchthäusern – so das manager-magazin, das offen lässt, ob dies nun gut oder schlecht war.

Helmut Höge, 65, ist Autor und Hausmeister der taz