Überfluss hat Methode

KOSTEN Oliven, Austern, Fleisch: Auf einer Slow-Food-Messe kann man sich richtig satt essen – auch an Geschichten

■ Slow Food politisiert sich: Seit ihrer Gründung 1989 kämpft die Bewegung mit dem Vorwurf, nur ein elitärer Kreis von Gourmets zu sein, die sich teure Produkte aus regionaler und biologischer Landwirtschaft leisten können. Auf dem Weltkongress wurde ein Dokument mit dem Titel „Die zentrale Stellung des Essens“ vorgestellt.

■ Worum es geht: Es ist ein ernährungspolitisches Programm. Es fordert, das Recht auf ausreichende Ernährung nicht nur als wirtschaftliches Grundrecht anzuerkennen – sondern endlich als zentrales Menschenrecht.

AUS TURIN JÖRN KABISCH

Auf dieser Messe gibt es zwei Arten von Besuchern: Die einen ziehen einen Einkaufs-Trolley hinter sich her, in den Oliven, Gewürze, Nudeln, Wein, Marmeladen oder Nougat verschwinden. Und es gibt die anderen.

Sie tragen als besonderes Kennzeichen mindestens den Button mit dieser kleinen Schnecke, dem Logo der Slow-Food-Bewegung, an der Brust. Manche haben sich gleich T-Shirts übergezogen, die zum Schutz der weltweiten Thunfischbestände aufrufen, die Regenwaldabholzung durch die Palmölindustrie anprangern oder einfach den Slogan tragen: „Real Men Eat Real Food.“ Aber das sind nur die Extreme. Natürlich sieht man auch Menschen mit politischen T-Shirts und großen Einkaufstüten, aus denen lange Spaghetti-Packungen herauslugen, kleine Kanister mit Olivenöl oder dicke Melonen. Ein Paradox? Nicht wirklich. Der Überfluss hat Methode.

Turin steht wieder im Zeichen von Slow Food. Der Lingotto, das ehemalige Fiat-Werk, wo bis in die 80er Jahre Autos vom Band rollten und auf der legendären Teststrecke auf dem Dach Probe gefahren wurden, beherbergt wie alle zwei Jahre die inzwischen größte Gastronomie-Messe Europas. Seit 1996 findet hier der „Salone del Gusto“ statt, so etwas wie die Leistungsschau der regionalen Bio-Landwirtschaft Italiens – eine Grüne Woche also, nur im wahreren Sinne des Wortes. In diesem Jahr gibt es dazu eine Premiere: Gleichzeitig stellt erstmals auch das Terra-Madre-Netzwerk seine Produkte und Projekte vor. Unter dieser Marke schließen sich seit 2004 weltweit Verbraucher und Bauern zu sogenannten Lebensmittelbündnissen zusammen. 1.500 gibt es davon inzwischen in über 150 Ländern. Und im Kongresszentrum nebenan treffen sich gleichzeitig über 650 Slow-Food-Delegierte aus allen Teilen der Welt, um über die Agenda der kommenden Jahre zu beraten. Über 50 Konferenzen und Podiumsdiskussionen sind anberaumt, zu Fragen der Fischereipolitik bis hin zur Gentechnik. Noch nie war guter Geschmack so politisch wie heute, das soll die Botschaft sein.

Tatsächlich ist diese Weltausstellung des guten Geschmacks so groß, dass sofort die Orientierung verloren geht. Zwar bewaffnet sich jeder Besucher mit einem der Kataloge, bevor er in die Hallen tritt, in der aufgebockte Holzplatten Straßen und Plätze wie auf einem Wochenmarkt bilden. Doch schon nach kurzer Zeit hat man das Gefühl, in einem Labyrinth zu stecken, so endlos sind die Naschgassen. Ständig wechseln die Gerüche: frisch gemahlener Kaffee, fettige Schwaden von Grillfleisch, die schwere Süße frisch gebackenen Brotes, schon allein das macht satt. Und was soll man zuerst kosten? Tunesische Datteln, ligurische Oliven oder wilde Feigen aus Mazedonien? Freilebende Austern aus Holland, getrocknete Sardinen aus der Lombardei oder eingesalzenen Kabeljau aus Island?

Der Katalog ist keine Hilfe. Und ist man erst an einen Stand getreten, dann muss man kosten – bei all den Geschichten, die zu den Kostproben serviert werden. Etwa die von den Fischern der holländischen Kooperative Goedevisser: Sie züchten keine Austern, sie sammeln sie bei Ebbe im Wattenmeer. Solch essbares Strandgut muss man doch einmal in sich hineingeschlürft haben. Nur wenige Schritte gegenüber erfährt man, dass die tunesischen Datteln mitten aus der Wüste stammen, aus einer kleinen Oase in der Sahara. Rein damit. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muss eben der Berg zum Propheten. Und dann folgt, was auf so einer Messe geschehen muss: Man ist in Minuten verloren, der Gaumen schreit nach Gnade, und das schon, bevor auf salzige Austern die süßen Datteln folgten.

Man bräuchte einen Führer. Silvia Dal Molin nennt sich „Personal Shopper“. Die 25-Jährige studiert an der Universität für gastronomische Wissenschaften in Pollenzo und bietet mit ihren Kommilitonen auf der Messe für ein paar Euro diesen besonderen Service an. „Wir haben thematische Entdeckungsreisen vorbereitet“, sagt sie. Egal, ob Kaffee, Käse oder Wein: Wer einen Rundgang bucht, bekommt eine Orientierung in Herstellungsweise und regionalen Besonderheiten, in das Dickicht aus Herstellern und Produkten. Es geht nicht darum, das beste Sortiment geboten zu kommen. Die Personal Shopper stellen vor, was Produkte aus dem Slow-Food-Sortiment meistens ausmacht: nicht unbedingt ihr außerordentlicher Geschmack, sondern die außerordentliche Geschichte dahinter.

Silvia hat für ihre Führung junge italienische Produzenten ausgesucht: Emanuela Garbaccio, 35, die mit ihrer Familie in den italienischen Hochalpen auf 2.300 Meter Seehöhe Käse macht, wahrscheinlich den höchsten Käse auf der Halbinsel. Kann sie davon leben? „Wenn wir auf der Alm sind, dann leben wir nur von dem, was dort wächst“, antwortet die kleine Frau mit der wilden Mähne, der die alpine Sonne tiefe Falten in die Stirn geprägt hat. Auch Alessandro Poretti führt ein besonderes Leben. Der 36-Jährige ist einer der Köpfe einer Weinbau-Kooperative im Piemont. Was vor über 30 Jahren aus dem Zusammenschluss dreier Familien entstand, erzählt er, „ist heute ein Mehr-Generationen-Projekt und eine multikulturelle Lebensgemeinschaft“. Die Kooperative hat über die Jahre junge Menschen aus Bulgarien, Rumänien oder auch Belgien angezogen. Sie machen hier zusammen Wein und kümmern sich, dass auch die Alten ihr Auskommen haben werden. „Ich will hier schließlich auch mal ein gutes Leben als ‚Ehemaliger‘ haben“, sagt Alessandro. „Dafür arbeite ich.“ Folgt man Silvias Führung, dann versteht man: Auf einer Slow-Food-Messe geht es vor allem um Nahrung, hinter der Menschen stehen, und keine Industrie, keine Großfabriken und keine Labors.

Was soll man zuerst kosten? Ligurische Oliven oder wilde Feigen aus Mazedonien?

Es ist im Kleinen genau das, was der Food-Journalist Carlo Petrini im Kopf hatte, als er vor über 20 Jahren die Slow-Food-Ideen entwickelte. Ihm machte Angst, wie die Nahrungsindustrie weltweit den Geschmack einebnete. Denn die heutige Vielfalt in den Supermarktregalen ist nur eine scheinbare, die Zutaten, um diese Produkte herstellen zu können, werden immer weniger, dafür aber in Maßen und weltweit produziert. Slow Food dagegen protegiert regionale Produkte, setzt auf kurze Vertriebswege und eine ökologische Landwirtschaft, die kleine Margen erzielt. Das hilft der Natur, das hilft den Bauern, das schützt vor Lebensmittelskandalen im großen Stil, wie Europa sie am Fließband erlebt, und das bewahrt am Ende eine reichhaltige und uralte Menschheitskultur, die überlebenswichtig ist: die Ernährung. Doch wenn es von allem nur wenig gibt, dann muss es von dem Wenigen umso mehr geben. Ergo: Die Welt des „anderen Geschmacks“ kann nur unübersichtlich sein. Überfluss durch Vielfalt.

Silvia weiß noch viele Geschichten aus diesem neuen Dschungel. Sie würden gar nicht in die Shopper auf Rädern passen, die auf ihrer Führung immer wieder im Weg stehen. Dagegen hat sie übrigens nichts. „Alles, was Sie hier einkaufen, kommt doch den Produzenten zugute. Aber Sie müssen schon aufessen“, erklärt sie, als sie weiter zu Manuel Lombardi und Giano Vetusto führt, zwei jungen Ziegenbauern. Sie produzieren in der Nähe von Neapel Conciato Romano, einen rassigen Höhlenkäse, der schon im alten Rom bekannt war. Und dann stellt sie noch Pietro Guglielmi vor, der 31 Jahre alt ist und wieder angefangen hat, was sein Vater einst aufgab: die Destillation von Orangenblütenwasser. Der Vater sah darin keine Zukunft mehr, nachdem Mitte der 80er Jahre in einem harten Winter alle Orangenbäume erfroren waren. Zehn Jahre später machte sich der Sohn wieder an die Aufforstung. Er ist ein stiller Mensch, aber unter einem verbogenen Strohhut sitzen hartnäckige Augen. Es ist nicht nur Geld, das die Nachbarn bewogen hat, für ihn Orangenbäume zu pflanzen und Blüten zu sammeln, sagt er. Es ist sein Traum – und man glaubt es ihm. Für einen Liter der duftenden Essenz braucht er ein Kilo Blüten, handgepflückt.

Silvia strahlt. Sie ist stolz, junge Menschen vorstellen zu können, die „ihr Herz dem Essen“ geschenkt haben, wie sie sagt. Die dafür die Entbehrungen als Kleinproduzenten auf sich nehmen, zumeist, ohne große Subventionen aus den Agrar-Töpfen der EU zu bekommen.

Aber auch Silvia gehört der Generation an, die sie vorgestellt hat. Längst bloggt sie, wenn sie nicht Food-Journalistin werden kann, wird es wohl irgendwas mit Management werden, sagt sie. Dann verschwindet sie im Getümmel der Messe. Der Rücken ihres schwarzen T-Shirts ist noch zu lesen: „Gente del Fud“ – Essensmenschen.