In Frankreich ist schon Jahreswechsel
: Der Rentrée-Zirkus

Air de Paris

von Annabelle Hirsch

Der September ist in Frankreich, besonders in Paris, ein eigenartiger Monat. Ein schöner Monat. Ein Monat des Aufbruchs. Es sind diese paar Wochen, in denen, so wirkt es zumindest manchmal, alle Karten neu gemischt werden, oder wie man hier sagen würde: „alle Würfel neu geworfen“ werden. In denen man so tun kann, als sei das vergangene Jahr schon um, als sei alles, was man vor dem Sommer getan hat, von gestern, als habe man in den sechs Wochen Griechenland, Korsika oder Südfrankreich, in der Sonne ein neues Ich entdeckt, das man jetzt, diesmal wirklich, zutage bringen wird. Es ist der Monat der sogenannten rentrée.

Vielleicht haben Sie das Wort schon einmal gehört, es wird einem ab Mitte August überall um die Ohren geworfen. Den Eltern, weil ihre Kinder bald wieder in die Schule müssen, zur „rentrée des classes“, und sie ihre letzten Sommernachmittage damit verbringen dürfen, Clairefontaine-Hefte zu kaufen (die je nach Stufe einen besonders breiten Rand haben müssen, damit die Lehrer ihren Kindern besonders viele Gemeinheiten reinschreiben können). Den Zeitungslesern, Radiohörern, Nachrichtenguckern, weil die Politiker ihre Badehosen bald gegen einen mehr oder weniger schicken, mehr oder weniger teuren Anzug eintauschen und man schon vorher spekuliert, was wohl geschehen wird, bei dieser „rentrée politique“, wann und ob Macron in den Umfragen wieder aufsteigen und wie schlimm es wegen seiner Arbeitsreform wohl knallen wird. Und den Lesern, diesem eigentlich recht unaufgeregten Volk, weil man ihnen sagt, was sie nun dringend lesen sollen.

Wer hinkt, bleibt links liegen, für Unerkanntes-Talent-Romantik hat keiner Zeit

Die „rentrée littéraire“ ist wahrscheinlich der verrückteste, seltsamste, aufregendste, hysterischste Moment des ganzen Rentrée-Zirkus. Noch während man am Strand sitzt und das Leben im Stand-by-Modus geparkt hat, erklären einem ganze Magazinausgaben und Zeitungsspecials, was demnächst erscheinen wird, auf welche Bücher man sich besonders freuen soll, welche Autoren sich mal wieder übertroffen haben und welche man getrost ignorieren darf. In diesem Jahr haben sich 580 von ihnen zwischen Mitte August und Anfang September in den Literatur-Ring geworfen, mindestens die Hälfte hatte schon am Erscheinungstag verloren, konnte nach Hause gehen, ein neues Buch schreiben.

Ein grausames Business. Ein Pferderennen: Jeder Verlag tritt mit seinem Stall aus sicheren Größen und jungen Talenten an, betreibt schon Monate vorher geschickte Lobbyarbeit, schickt seine Fohlen auf die Rennbahn, schaut, wer sich am besten schlägt, und konzen­triert dann, nach ein paar Wochen, alle Aufmerksamkeit auf die besten Läufer. Wer hinkt, bleibt links liegen, für Unerkanntes-Talent-Romantik hat keiner Zeit. Denn es geht ja um etwas, es geht um alles. Es geht um die Preise. Den Goncourt, den Renaudot, den Prix Medicis, den Grand Prix de Roman der Académie francaise, den Prix Fémina und so weiter. Ich weiß gar nicht, wie viele es davon überhaupt gibt, vielleicht genug für alle, mag man meinen, ist aber nicht so. Gerade streiten sich vielleicht dreißig, vierzig um diese Preise.

Man trifft sie andauernd, immer die gleichen, immer zusammen, in den Buchhandlungen von Paris, auf den Literaturcocktails, auf den Festivals, wo sie alle nebeneinander vor großen Bücherbergen sitzen und stundenlang viele, viele Bücher für François, Marine, Jean-Christophe, Pénélope und wie sie sonst noch alle heißen unterschreiben. Die ersten Nominiertenlisten sind seit dieser Woche offiziell, wer sich entspannt zurücklehnen kann, weil er eh nicht dabei ist, steht fest. Die anderen rennen atemlos weiter. Raus aus der „rentrée“, rein in ein vielleicht diesmal wirklich ganz neues Jahr. Wir anderen haben bis dahin zumindest sehr viel zu lesen.

Annabelle Hirsch ist freie ­Autorin und lebt in Paris