Demokratiediskurs als Boulevardtheater

REALE BEDROHLICHKEIT In „Der Kaktus“ verhandelt Juli Zeh die Legitimierung von Folter. Klaustrophobisch und komisch uraufgeführt am Volkstheater München

Vier Polizisten verhören einen Kaktus, der unter dringendem Terrorverdacht steht. Das ist – kurz gefasst – die Handlung von Juli Zehs neuem Theaterstück „Der Kaktus“. Für gewöhnlich schreibt die Autorin kluge, manchmal ausschweifende Romane über Menschen, für die moralische Fragen höchstens als theoretische Gedankenspiele von Interesse sind. In ihrem zweiten Bühnenstück geht sie jetzt zur Praxis über: Folter – ja oder nein? Das Thema überrascht nicht, schließlich veröffentlichte Juli Zeh zuletzt mit Ilja Trojanow „Angriff auf die Freiheit“, eine Abrechnung mit Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und Rechteverfall.

Überraschend aber sind die dialogische Prägnanz, der Humor und die Leichtigkeit, mit der die Autorin dem schweren Thema begegnet. Gekonnt pendelt sie das Stück zwischen einer Komik à la „Türkisch für Anfänger“ und den moralischen Konflikten aus, hält sicher die Balance zwischen Klamauk und Ernst. So gelingt ihr das vermeintlich Unmögliche: ein Boulevardstück mit Demokratiediskurs. Eine bemerkenswert klar umrissene Geschichte über die Absurdität des Terrorwahns und die Aufweichung von Grundrechten.

Die vier Figuren, die Zeh auf einander und auf den Kaktus loslässt, könnten unterschiedlicher kaum sein: Cem ist bei der Polizei, weil er Waffen geil findet; Jochen meint, einen Auftrag zu haben; Susi glaubt an Ideale; und Dr. Schmidt an Folter, wenn sie Menschenleben retten kann. Juli Zeh gönnt es weder ihrem Publikum noch ihren Figuren, sich einfach zwischen Gut und Böse entscheiden zu können. „Wer ist dafür, das Verhör abzubrechen und den Frankfurter Flughafen seinem grausamen Schicksal zu überlassen?“, fragt Dr. Schmidt. Da weiß selbst Susi, die immer „Demokrat“ sein wollte und Mitglied bei Amnesty International ist, nicht mehr weiter.

Härtetest der Abi-Ideale

Zeh entwirft ein Dilemma, dem sich keiner entziehen kann. Sie schickt ihre Figuren in eine moralische Hölle, unter der vor allem Susi leidet, weil ihre in der Schule gelernten Ideale mit dieser Realität so gar nicht übereinstimmen. Cem wendet ein: „Das mit dem Abi ist irgendwie schädlich. Kann man sich das irgendwie wegmachen lassen?“ Schon ist ein Abrutschen ins Lamentieren erfolgreich verhindert.

Für die Uraufführung am Münchner Volkstheater hat sich die Autorin Bettina Bruinier als Regisseurin gewünscht, die am gleichen Ort bereits Zehs nachdenklichen Roman „Schilf“ für die Bühne adaptiert hat. Bruinier stellt die vier Individuen in den Fokus der Inszenierung. Die Schauspieler lassen unter ihrer präzisen Führung aus den Typen Menschen werden, die mit all ihren Schwächen und Macken glaubwürdig sind. Thomas Schmidt spielt den Jochen als gebrochenes HB-Männchen, das nur zu gern ein harter Kerl wäre, aber noch immer unter dem penetranten Verständnis seiner Eltern leidet. Stefan Ruppe legt als Deutschtürke Cem eine beachtliche Komik an den Tag, gibt seiner Figur aber auch eine große Portion Herzlichkeit mit. Kristina Pauls’ Susi verliert ihre anfängliche Überlegenheit zunehmend, als sie erkennen muss, dass ihr Abi-Wissen im wahren Leben nicht viel nützt. Sophie Wendt gibt der Frau Dr. Schmidt eine überbordende Souveränität, die ahnen lässt, dass dahinter etwas ganz anderes lauert.

Die ohnehin kleine Bühne des Nachtkastls hat Ausstatter Markus Karner noch mal halbiert, das Publikum sieht von zwei Seiten in ein tristes Polizeizimmer: dicke Mauern, ein kleines Fenster, zwei Stühle, ein uralter PC. Das war’s. Hier spielt sich ein klaustrophobisches Kammerspiel ab. Nichts lenkt den Blick und die Gedanken ab von den Schauspielern. Selbst der Kaktus, der im Stück gleich am Anfang auf die Bühne gezerrt wird, fehlt in der Aufführung lange Zeit. Die Darsteller sprechen in Richtung der Zuschauer, wenn sie sich an den „Gefährder“ wenden. Als der Kaktus schließlich von Dr. Schmidt hereingehievt wird, ist das beinahe schade: Die alberne Konkretisierung nimmt dem Szenario etwas von seiner durchaus realen Bedrohlichkeit.

Am Ende drückt sich die Autorin selbst – wie ihre Figuren – vor der Entscheidung: Stattdessen lässt sie die vier Polizisten von einem Sondereinsatzkommando niederstrecken, das sich das „21. Jahrhundert“ nennt. Was soll das bedeuten? Das Ende aller Diskussionen? Aller Skrupel? Auch wenn das Ende ein wenig hilflos wirkt: Die bedrückenden Fragen nach den Grenzen der Demokratie bleiben. Lange nachdem man durch das Blut auf dem Boden zum Ausgang gegangen ist.

ANNE FRITSCH