Wanderung bis zum Mittelmeer: Wir fühlen uns schlecht

Erst sind es nur Irritationen am Wegesrand, dann ist es Gewissheit: unterwegs auf früheren Wanderrouten afrikanischer Flüchtlinge.

Aus den Bergen geht der Blick auf eine an der Küste liegende Stadt

Blick auf's Mittelmeer und auf die französische Stadt Menton Foto: Dorothea Marcus

Schon lange vorgehabt: nach Nizza zu fliegen. Mit dem Zug ins Bergdorf Sospel fahren. Von dort aus die letzte Etappe der „Grande Randonnée du Mercantour“ bis zum Mittelmeer gehen, jenen märchenhaften Großtrekkingweg, der in 16 Tagen die wilden Seealpen durchmisst und durch das Vallée de la Roya nach Menton an der italienisch-französischen Grenze zur Côte d’Azur führt, Italien oft nur einen Berg entfernt.

Siebeneinhalb Stunden sind angegeben, über 1.000 Meter An-, mehr als 1.400 Meter Abstieg. Nichts für Anfänger, aber machbar, sind wir überzeugt.

Als wir kurz nach dem ersten schattenlosen Anstieg ein paar Stoffturnschuhe im Graben sehen, denke ich noch nichts. Als beim ersten Wegweiser zwei Kilometer weiter ein brasiliengelbes Synthetik-Shirt ausgebreitet auf einem Stein liegt, bin ich irritiert. Als wenig später eine Unterhose über die stachelige Macchia gespannt ist, machen wir Scherze über Nacktwanderer und Krimi-Reenactments.

Wie bestellt, hängt beim ersten von drei Gipfelanstiegen am Col de Razet eine braune, staubige Hose über dem GR-Schild. Noch kommen wir uns wie Helden vor und beglückwünschen uns zur sensationellen Fitness, als wir nach vier Stunden Wanderung und ein paar Kleidungsstücken mehr an einen Garten kommen, an dem ein Schild auf Französisch, Deutsch und Italienisch zur Rast einlädt.

Migranten aus Sudan und Eritrea

Ein Sofa unter gespanntem Tuch, im Schatten warten semiwarmes Bier, Molke, selbstangebaute Beeren als Erfrischung, bezahlt wird, was wir geben wollen. Eine Glocke auf dem Tisch holt die Deutschfranzösin Christine heran, die seit drei Jahren mitten im Mercantour als Aussteigerin lebt und quasi autark Permakultur, also einen nachhaltigen Selbstversorgungsgarten betreibt. Sie lebt in einer selbstgebauten, nur mit Solarmodul und Düngetoilette betriebenen Holzhütte, zwei Lamas und ein Hund als Begleiter.

Was für Wanderer denn täglich so in ihre Selbstbedienungsbar kommen, fragen wir beiläufig, denn wir sind bisher niemandem begegnet. Und dann erzählt sie, dass es seit zwei Jahren vor allem Migranten aus Sudan und Eritrea sind, die von Italien aus nach Frankreich über die grüne Grenze wollen und von der Härte des Aufstiegs überrascht werden, in einem Zustand jenseits der Erschöpfung.

„Die meisten wollen an die Küste, aber ich versuche sie zu überreden, weiter in die Berge zu gehen – unten regiert der Front National, in den Bergen sind die Menschen offener“, sagt sie. In Nizza, Hochburg der rechten Populisten und reichen Jachtbesitzer, kämen sie ohnehin fast nie an.

Christine erzählt von den völlig fertigen jungen Männern, darunter auch Frauen mit Kindern, die oft genug ohne Wasser auf ihre Zwangswanderung gegangen sind. Sie erzählt auch von Cédric Herrou, der nur ein paar Kilometer weiter oben auf seinem Biobauernhof Hunderte von Flüchtlingen beherbergt, dafür bereits sechsmal im Gefängnis saß und selbst in der New York Times als Widerstandskämpfer gefeiert wird.

Wüste ohne Ausweg

Erst jetzt fällt uns ein, was die Kleiderhaufen auf der Route bedeuten: Flüchtlinge haben sich ihrer dreckigen, schweren Kleidung entledigt oder Wandermarken gesetzt. Ein Gefühl von Scham überkommt mich für meine Lifestyle-Wanderqual, bei der wir schon vier Liter Wasser verbraucht haben. Wir, die wir uns schon am Ziel glaubten, werden nun doch böse überrascht von der Anstrengung, die noch kommen wird.

Zwar sieht man das Meer nun in der Ferne, aber als wir nach vier weiteren Stunden unten ankommen, humpeln wir nur noch. Währenddessen hängen immer mehr Rettungswesten in den Zäunen, häufen sich verlassene Lager mit Zahnbürsten, Rasierschaumdosen und haufenweise Kleidung. Was für uns ein Wellness-Traum aus sattblauem Meerblick und heiß-holzigem Nadelduft ist, erscheint anderen als eine Wüste ohne Ausweg.

Als wir entkräftet am Bahnhof von Menton vorbeischlurfen, um endlich am Meer ein kühles Bier zu trinken, sehen wir erst die Polizeiautos, dann sie: junge, schwarze Männer, kaum über 20, umzingelt von französischen CRS, sitzen auf dem Ri­viera-Bahnhof. Jeder Zug aus Ventimiglia hat nun fahrplanmäßig zehn Minuten Aufenthalt, um gefilzt zu werden, sie finden immer jemanden. Die Toiletten sind auf dieser Strecke geschlossen, damit sich niemand versteckt.

„Wir schicken sie gleich nach Ventimiglia, die sind irregulär in Frankreich, aber sie kommen eh morgen wieder“, sagt ein CRS zu uns, als wir fragen, ob sie Wasser kriegen, und hört sich an wie bei einer sportlichen Herausforderung. Mit den auffällig gut gekleideten Männern selbst versuchen wir auch zu sprechen, sie sitzen direkt neben dem Fahrkartenautomaten. Doch sie schauen durch uns hindurch, als sei es zu aussichtslos, dass sich die Parallelwelten an diesem Ort berühren.

Am gleichen Tag wird Cédric Herrou mit 150 Migranten in Cannes aufgegriffen, weil er mit ihnen in Marseille Asyl beantragen wollte, und erneut vor Gericht gestellt. Amnesty International verurteilt genau an diesem Tag die französische Praxis der Asylverhinderung als zynisch und illegal. Wir baden eine Runde im Mittelmeer und fühlen uns schlecht.

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