Mehrere Jahrhunderte in der Stimme

Konzert Im Rahmen von Pop-Kultur trat die 82-jährige Sängerin Shirley Collins erstmals in Berlin, in der Kulturbrauerei, auf

„Ich hatte viele Gründe, um einen Film über Shirley Collins zu drehen“, sagt der Regisseur Rob Curry im Saal 5 des Kinos der Kulturbrauerei. „Dazu gehörte ein zu Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlichtes Buch von einem deutschen Gelehrten namens Oskar Schmitz. Dieser Autor breitete sich über mehrere hundert Seiten aus, um England als ein angebliches ‚Land ohne Musik‘ zu beschreiben. Da war ich bass erstaunt.“ – „Ich habe nicht gestaunt“, erwidert die neben ihm sitzende 82-Jährige. „Denn so ein Buch spiegelt sehr gut das Selbstverständnis der damaligen Oberschichten nicht nur in Deutschland wider. Deren Vertreter konnten oder wollten sich einfach nicht vorstellen, dass Leute aus der Arbeiterklasse Lieder kannten, geschweige denn in der Lage waren, sie zu singen.“

Dass sie in einem Land mit unendlich viel Musik lebten, erfuhren Shirley Collins und ihre Schwester Dolly schon als kleine Kinder in den 30er Jahren. Damals hörten sie ihrer Tante und ihren Großeltern zu, die nicht nur Geschichten, sondern eben auch Lieder kannten und sie sangen, bis die Schwestern sie auswendig konnten. Welchen Berufswunsch ihr die Musik eingab, erzählt Collins in „The Ballad of Shirley Collins“, von dem es an diesem Abend Ausschnitte zu sehen gibt: „Ich wollte singen, ich wollte Sängerin sein, und ich wollte nichts anderes.“ Während sie spricht, zeigt sie die Kamera von Curry und seinem Mitstreiter Tim Plester in ihrer Küche in East Sussex. Vor ihr ein Becher, auf dem „Billy Bragg“ steht, ein Geschenk des Kollegen in Verehrung.

Draußen ist es milder Abend, Nebel räkelt sich durch die Straßen. Aus dem Off singt Collins zu solchen Bildern sparsamst instrumentierte Lieder, die in den sechziger Jahren ihren Ruf als britische Folk-Königin begründeten. Pop-Songs wird nachgesagt, dass sie in der Lage seien, ein Gefühl von einem intensiven Moment, einem romantischen Abend oder einem aufregenden Jahr wiederzugeben. Wer dagegen Collins zuhört, kriegt eine Gänsehaut, weil er einen Eindruck davon bekommt, wie es sich anhören kann, wenn jemand in fast nüchterner Klarheit mehrere Jahrhunderte in seine bzw. ihre Stimme legt. Das dokumentieren nicht nur wegweisende Platten wie „Old roots, new routes“ oder „The sweet Prime­roses“, sondern auch das neueste Werk, „Lodestar“, aus dem Collins in Berlin einige Stücke vorträgt.

Sie handeln vom Leben auf dem Land und auf See, in deren Nähe an der englischen Südküste Collins aufwuchs. Sie singt von Mädchen, die auswandern, und von Frauen auf Schiffen, die an Bord entgegen dem gängigen Vorurteil weniger Probleme bereiten, als selbst Stress zu kriegen. „Ich bin das erste Mal in Berlin“, sagt Collins lächelnd zwischen zwei Stücken, ‚„und ich hoffe, es wird nicht das letzte Mal sein.“ Das wünscht sich auch das tief gerührte, hingerissene Publikum. Was für eine Sängerin! Kristof Schreuf