In Niedersachsen fehlt nur Tibet

Finden Die Hannoveranerin Andrea Giesel sucht Niedersachsen nach Drehorten für Spielfilme, Fernsehserien und Werbespots ab. Und verlegt schon mal Berlin nach Bückeburg und das Geiseldrama von Gladbeck nach Delmenhorst

Kann ganz intuitiv den passenden Ort finden: Locationscout Andrea Giesel Foto: Wilfried Hippen

von Wilfried Hippen

Beim Film ist so gut wie nichts wie es scheint. Wichtig ist nur, dass die Scheinrealität glaubwürdig wirkt und da spielen die Drehorte eine große Rolle. Ein Haus, ein Wald, eine Straße, ein Zimmer oder eine Düne müssen möglichst aussehen, wie es der erzählten Geschichte entspricht. Genau jene Orte zu finden, ist die Arbeit von Location-scouts. Andrea Giesel ist eine von ihnen.

Giesel sucht in Niedersachsen für Spielfilme, Fernsehserien und Werbespots nach passenden Drehorten. Sie hat hier schon Orte gefunden, die dann wie das Palace Hotel in Madrid, Straßenzüge in Brüssel oder das Berlin der 40er-Jahre aussehen. Für den Film „Die verlorene Zeit“, der die wahre Geschichte der Flucht eines Liebespaars aus Auschwitz erzählt, hat sie 2011 nicht nur einsame Häuser in unbewirtschafteten Birkenwäldern gefunden, sondern auch Orte, an denen Teile des Vernichtungslagers nachgebaut werden konnten. „Außer Tibet finde ich alles in Niedersachsen“ sagt sie.

Das Bundesland ist mit seinen Hügeln, Bergen, Höhlen, Stränden, Wäldern und Mooren extrem facettenreich. Außerdem gibt es historisch intakte Stadtkerne wie etwa in Goslar oder Stade sowie Burgen und Schlösser. Im Schloss von Bückeburg ist Geisel nach vielen Produktionen schon Stammgast. Sie sagt, sie habe „einen guten Draht zum Fürsten“ und kenne das Schloss inzwischen so gut, dass sie darin Führungen machen könnte.

Im Bückeburger Schloss wurde beispielsweise ein großer Teil von „Die Unsichtbaren“, der im Oktober in die Kinos kommt und von fünf jungen Juden erzählt, die sich während der Nazi-Zeit in Berlin versteckten und überlebten. Was das mit einem Schloss zu tun hat ? Dort gibt es viele ungenutzte Räume, die seit Jahrzehnten nicht modernisiert wurden und sich deshalb gut als Zimmer und Wohnungen im Berlin der 40er-Jahre herrichten ließen. Ein weiterer Vorteil: Die Räume waren alle an einem Ort, was bedeutet, dass das Filmteam nicht zwischen Drehorten herumreisen musste.

Solch praktische Erwägungen sind für Locationscouts (eine deutsche Berufsbezeichnung gibt es noch nicht) so wichtig wie das Finden eines Drehorts. Da ist etwa die schönste Villa nicht zu gebrauchen, wenn es in der Nähe keine Parkplätze für die vielen Transporter der Filmproduktion gibt. Und ein Haus mag von Stimmung und Einrichtung her ideal zu einer Sequenz passen, liegt es aber in der Nähe einer S-Bahn Linie, kann das dem Tonmann nicht zugemutet werden.

Für den Beruf braucht man also ein feines Gespür dafür, welches Potenzial Räume und Orte für die Kamera bieten. Giesel ist das Kind von zwei Fotografen und konnte so früh einen Blick dafür entwickeln, welches Objekt sich für ein gutes Bild eignet. Sie machte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau, war aber in diesem Beruf nicht glücklich und begann in den 90er-Jahren bei Fernsehsendern in Hannover als Regie- und Produktionsassistentin zu arbeiten.

Ihren ersten Job als Locationscout bekam sie 2002 bei der internationalen Produktion „Baltic Sea“ über den Untergang der Fähre „Estonia“ in der Ostsee. Zu der Zeit arbeitete noch kaum jemand in Deutschland in diesem Beruf und die Förderanstalt Nordmedia war gerade erst gegründet worden und dort fragte man sie einfach, ob sie sich das zutraue. Tat sie und die Arbeit gefiel Giesel sofort. Sie könne ganz „intuitiv einen geeigneten Ort finden“, sagt sie.

In der Kette der Gewerke gehört der Locationscout zu den ersten, die an einem Film arbeiten. Nachdem Andrea Giesel im Drehbuch die ersten, meist nur knappen Beschreibungen der Handlungsorte gelesen hat, bespricht sie mit dem Szenenbildner und manchmal auch dem Regisseur, wie diese sich die einzelnen Drehorte vorstellen.

Die Suche nach den Motiven ist für Giesel in den letzten Jahren durch Google-Earth und die Immobilienplattformen im Netz zwar einfacher geworden, aber ihre Arbeit besteht trotzdem immer noch vor allem aus langen Autofahrten. Im Schnitt braucht sie drei Tage , um einen Drehort zu finden und um alles so zu organisieren, dass das Filmteam am Drehtag dort arbeiten kann.

Was die Besitzer, die ihr Einverständnis für die Dreharbeiten in ihrem Haus, ihrer Wohnung oder auf ihrem Grundstück gegeben haben, gezahlt bekommen, ist Verhandlungssache. Aber in der Regel gibt es eine Monatsmiete für einen Drehtag.

Giesel versucht, den Besitzern nie zu viel zuzumuten. Denn die „Dreharbeiten sind ein Überfall“, bei dem die Filmteam-Meute um 7 Uhr anrückt und um 21 Uhr noch nicht wieder weg ist. Und bei den vielen Produktionen, an denen sie arbeitete, ist tatsächlich erstaunlich wenig kaputt gegangen: Es gab mal ein von durchdrehenden Reifen durchfurchtes Blumenbeet, ein historischer Spiegel ging im Bückeburger Schloss zu Bruch und immer mal wieder musste ein Parkett ausgebessert werden. Am meisten hat sie sich über eine Gurkenscheibe mit Mayonnaise geärgert, die auf einen alten Steinfußboden gefallen ist und dort einen Fleck hinterließ.

Absagen bekommt Giesel nur wenige. Nur der Bürgermeister von Hannover hat inzwischen schon zu oft Schauspieler in Nazi-Uniformen in den Räumen seines Rathauses gesehen und gibt nun keine Drehgenehmigungen für entsprechende historische Filme mehr. Und der Bürgermeister von Delmenhorst war schon etwas pikiert, als Giesel ihm erklärte, warum im vergangenen Jahr so viele Szenen des ARD-Dokudramas „Gladbeck“ über das Geiseldrama statt an den Originalschauplätzen in Bremen und Köln ausgerechnet in seiner Stadt gedreht wurden. Dass „die Straßen von Delmenhorst noch so aussehen wie in den 80er-Jahren“ war für ihn kein Kompliment. Aber Andrea Giesel hat es gesehen. Auch das gehört zu ihrem Beruf.