Berliner geben sich die Spritze

SCHWEINEGRIPPE Der Andrang am ersten Impftag ist groß. Vielen Ärzten fehlt aber weiterhin der Impfstoff: Sie haben zu früh bestellt oder ihre Lieferung blieb im Verkehr stecken

„Die Impfaktion stellt alle Beteiligten vor neue Heraus- forderungen“

GESUNDHEITSSENATORIN LOMPSCHER

Von MARSIDA LLUCA UND SEBASTIAN HEISER

Gamze Alpay steht in der Praxis, im Arm ihr zehn Wochen altes Baby. „Mein Mann und ich haben uns gerade impfen lassen, unser Kind ist noch zu klein dafür“, sagt die 35-Jährige. „Als Asthmatikerin hätte ich das aber sowieso getan.“ Ihr Hausarzt habe sie an die Praxis von Jan Seeliger in Kreuzberg verwiesen. Angst vor Nebenwirkungen hat sie nicht. Ihr Mann fügt hinzu: „Man wird sensibler, wenn man Kinder hat. Das merken wir auch in unserem Freundeskreis.“ Viele befreundete Paare mit Kindern würden sich genauso entscheiden.

Seit diesem Montag können sich alle Berliner impfen lassen. Dabei sollen Schwangere ab dem vierten Monat und chronisch Kranke die Spritze zuerst bekommen: Ihr Immunsystem ist geschwächt, bei ihnen ist ein besonders schwerer Verlauf der Schweinegrippe zu befürchten. Doch bei der Lieferung des Impfstoffs an die Berliner Praxen gibt es Verzögerungen.

Eigentlich sollte es so laufen: Die Impfärzte machen einen Vertrag mit der Gesundheitsverwaltung. Die informiert die zentrale Apotheke. Dann können die Ärzte dort den Stoff bestellen. Doch einige Mediziner bestellen, bevor ihr Vertrag bestätigt ist. Andere bestellen zu spät. Manchmal bleibt auch schlicht der Lieferwagen im Verkehr stecken, und wenn er ankommt, ist die Praxis schon geschlossen. „Die Impfaktion stellt alle Beteiligten vor neue Herausforderungen“, sagte am Montag Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Linke). „Ich bin sicher, dass wir diese in gemeinsamen Anstrengungen meistern werden.“

Im Internet hat die Gesundheitsverwaltung unter www.berlin.de/impfen eine Liste jener bisher rund 220 Praxen veröffentlicht, die einen Impfvertrag haben. Auch unter der zentralen Behördennummer 115 kann man sich informieren. Wer aber bei den Ärzten auf der Liste anruft, trifft oft auf Ratlosigkeit. Viele wissen noch nicht, wann genau sie beliefert werden. Angeblich sollen bisher rund 100 Praxen impfen. Die Gesundheitsverwaltung verspricht, dass dies in den nächsten Tagen alle aufgelisteten Ärzte tun können.

In der Praxis von Jan Seeliger klingelt ständig das Telefon. Er ist einer der wenigen, die bereits impfen können. Mit dem Hörer in der Hand läuft Daria Biegisch ins Wartezimmer, um den nächsten Patienten aufzurufen. Sie ist heute die einzige Arzthelferin in Seeligers Praxis und hat viel zu tun – zusätzlich zum regulären Betrieb: „50 bis 70 Anrufe hatten wir heute schon“, sagt sie gegen Mittag. „Die Leute wollen sich so schnell wie möglich gegen die Schweinegrippe impfen lassen.“ Mit einer Stunde Wartezeit müssten die Patienten schon rechnen, wenn sie an diesem Tag in die Praxis kommen.

Der Arzt Jan Seelinger hat seit dem Morgen bereits 30 bis 40 Berliner geimpft. Er hat sich auf Andrang eingerichtet und 100 Impfportionen bestellt. Dennoch ist er überrascht: „Wir haben nicht damit gerechnet, dass so viele kommen.“

Viele Patienten kämen von anderen Ärzten, die nicht impfen, zu ihm. „Beinahe alle gehören zu den Risikogruppen, es sind also chronisch Kranke, medizinisches Personal und Leute mit kleinen Kindern“, sagt Seeliger. Bedenken gegen die Immunisierung hat er nicht: „Ich impfe bereits seit vielen Jahren ohne Komplikationen. In der Schweinegrippe-Impfung befinden sich die gleichen Stoffe wie bei anderen Impfungen auch. Ich halte die Impfung daher nicht für so riskant.“

Bisher sind nach Angaben der Gesundheitsverwaltung 1.246 Berliner an der Schweinegrippe erkrankt. In der vergangenen Woche war ein 40-Jähriger an den Folgen der Krankheit gestorben, wie die Obduktion ergeben hatte. Es ist der erste Tote in der Hauptstadt im Zusammenhang mit der Schweinegrippe.

Die meisten Menschen, die in Seeligers Wartezimmer noch auf ihre Impfung warten, gehen trotz allem gelassen mit der möglicherweise drohenden Krankheit um. Manfred Rais etwa blättert entspannt in einer Zeitschrift: „Ich arbeite als Psychotherapeut mit vielen Menschen zusammen und lasse mich auch sonst gegen die saisonale Grippe impfen“, sagt der 54-Jährige.

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