Dystopie In der schönen neuen Welt von Philipp Schönthalers Erzählband „Vor Anbruch der Morgenröte“ gibt es keinen Riot
: Maximal friedlich, maximal ruhig

Kaum ein deutschsprachiger Erzähler berichtet derzeit spannender von der Gegenwart als Philipp Schönthaler. Ob er sich der Selbstoptimierung widmet oder dem Storytelling, seit seinem vor vier Jahren veröffentlichten Debütband „Nach oben ist das Leben offen“ ist der 1976 in Stuttgart geborene Autor dem Zeitgeist auf der Spur. In seinem neuen Erzählband „Vor Anbruch der Morgenröte“ blickt Schönthaler voraus. Denn die sieben hier versammelten Texte handeln von der nahen Zukunft – und ihrem digitalen Alltag. Von Hologrammen zum Beispiel, vom autonomen Eigenheim, vom Internet der Dinge – und von intelligenten Städten. So wie den „Orchid Yards“ aus der gleichnamigen Erzählung.

Diese „Stadt in der Stadt“ ist mit ungezählten Elektrochips bestückt, die alles messen, was messbar ist. Dank der gesammelten Daten können der Energie- und der Wasserverbrauch der „Yards“ laufend reduziert werden, sinkt aber auch die Kriminalitätsrate beständig. Es ist der Traum von der schönen neuen Welt.

Für den versprochenen Komfort geben die meisten „OYaner“ ihre Daten bereitwillig her. Dass sie damit auch die Kontrolle über ihre unmittelbare Umgebung abgeben, scheint für sie kein Problem. Ist doch alles stets in bester Ordnung.

Die autonomen „Aktiv-­Homes“ sorgen für die richtige Raumtemperatur und einen vollen Kühlschrank. Staus und Unfälle werden durch den von Maschinen geleiteten Verkehr verhindert. Und lästige Demonstrationen können von den Sicherheitskräften schnell erfasst und aufgelöst oder nach Belieben einfach umgeleitet werden.

Die Zukunftsszenarien, die Schönthaler in seinen Erzählungen entwirft, sind mehr als beunruhigend. Und gerade deshalb lesenswert. Sieht so die Zukunft aus, auf die wir zusteuern? Geht es nach den anderen Texten des Bandes, besteht daran kein Zweifel. Hier wie dort löst sich das Individuum in der digitalen Bequemlichkeitsblase auf. Alles ist „maximal friedlich, maximal ruhig“.

Keine der geradezu hilflos entmündigten Figuren Schönthalers hinterfragt sich oder das System. Umso intensiver tut das der Leser irgendwann. Denn Grund zur Beunruhigung geben nicht nur die Texte und ihre Figuren. Beim Blick in das ausführliche Quellenverzeichnis, das Schönthaler seinen sieben Erzählungen folgen lässt, wird klar, dass die eben noch einigermaßen absurd erscheinende nahe Zukunft hier und da schon Wirklichkeit geworden ist.

Besonders deutlich wird das im stärksten Text des Bandes, der allein schon Stoff für mehrere Romane bietet. Dabei beginnt die den Band eröffnende Titelerzählung „Vor Anbruch der Morgenröte“ als einzige mit einem Blick zurück. Für seinen brutalen Mord an einem Nachtwächter wird der 27-jährige Texaner Joseph Paul Jernigan 1981 zum Tod verurteilt. Zwölf Jahre später stirbt er in einem Gefängnis in Huntsville durch die Giftspritze. Seinen Körper hat Jernigan der Medizin vermacht.

Dass Ärzte und Wissenschaftler ihn nur wenige Monate nach seinem Tod wiederbeleben würden, konnte er nicht ahnen. Es vergeht kein Jahr, bis aus dem ehemaligen Schwerverbrecher das erste vollständige digitale Modell eines Menschen wird. Aus dem Todestrakt entsteht der Cyberspace. Aus Joseph Paul Jernigan – der neue Adam.

Minutiös beschreibt Schön­thaler, wie die Wissenschaftler den Körper Jernigans aufbereiten, zerstückeln und am Rechner wieder zusammenführen; virtuos zeigt der Autor, wie aus Science-Fiction Realität wird und aus Jernigan ein digitales, noch heute abrufbares Gespenst. So hat man noch nie von den Anfängen und den Auswirkungen der Digitalisierung gelesen. Moritz Müller-Schwefe

Philipp Schönthaler: „Vor Anbruch der Morgenröte“. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2017. 213 Seiten, 20 Euro