Geheimnisvolle Erscheinungen

FESTIVALAUSLESE Mit Première Brasil wird im Haus der Kulturen der Welt eine Auswahl des Filmfestivals von Rio de Janeiro gezeigt. Und mit den Filmen kommen auch viele Regisseure mit nach Berlin

Eine Welt, die, durchzogen von Mythen und Gesängen, eine berückende Komplexität besitzt

VON MICHAEL BAUTE

Bisweilen begegnen einem Filme, deren formale und inhaltliche Eigenständigkeit so frappierend und neuartig ist, dass es schwerfällt, ihnen mit herkömmlichen Worten beizukommen. Der Erstlingsfilm von Helvécio Marins Jr. und Clarissa Campolina ist so ein Fall.

„Girimunho“ („Der Wirbel“) erzählt eine Geschichte aus dem Sertão, dem brasilianischen Inland im Nordosten. Im semidokumentarischen Stil mit Laiendarstellern inszeniert, entwickelt der Film ein vollkommen eigenständiges System, aus dem heraus eine ethnografisch inspirierte Studie von berückender Schönheit entsteht. Blitzende Lichter und verschluckende Schatten, heftige Farbigkeit, aushöhlende, der Umgebung abgerungene Töne bilden dabei einen faszinierend verschlungenen Zeichenhintergrund. Auf ihm entfaltet sich eine berührende Erzählung, die vom Tod des Mannes der 81-jährigen Bastú ausgeht, die daraufhin von geheimnisvollen Erscheinungen heimgesucht wird. Das Spirituelle wirkt unaufgeregt in den Alltag der alten Frau, die mit ihren beiden Enkelinnen ein gänzlich unspektakuläres Leben führt.

Mit einem unaufdringlich philosophischen Tonfall präsentiert „Girimunho“ eine Welt, die, durchzogen von Mythen und Gesängen, eine berückende Komplexität besitzt.

„Girimunho“ ist einer von 13 Filmen, die bis zum 18. November bei „Première Brasil“ im Haus der Kulturen der Welt gezeigt werden. Die Reihe versammelt eine Auswahl von Neuproduktionen aus der gleichnamigen Sektion des Festivals von Rio de Janeiro. Viele der Regisseure werden zu den Vorstellungen des Festivals anwesend sein, einige von ihnen nehmen an diesem Samstag an einer Podiumsdiskussion über „brasilianische Literatur und die Konstruktion einer visuellen Dramaturgie“ teil.

Auf diese Debatte darf man auch deswegen gespannt sein, weil die auf dem Festival gezeigten Literaturadaptionen in ihrer dramaturgischen Konventionalität weitaus harmloser wirken als die Filme des explosiven Cinema Novo der 60er und 70er Jahre, das literarische Stoffe als Ausgangspunkt für autonome filmische Artikulation nutzte.

Eher verdaulich inszeniert beispielsweise Cecilía Amado, Enkelin von Jorge Amado, dessen Roman „Capitães de areia“ (Captains of the Sand). Der Film, der von einer Bande von Straßenkindern im Salvador de Bahia der 1950er Jahre erzählt, ist aufgrund seiner Darsteller zwar stimmungsreich, wirkt aber oft unnötig von einer banalisierenden Affektdramaturgie gehetzt. Ähnlich konventionell erzählt ist „Xingu“ von Cao Hamburger, einem der produktivsten Regisseure Brasiliens. Der Film zeigt die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte der Brüder Villas Bõas, die die Welt der Xingu-Indianer am Amazonas erforschten. Die Konfrontationen mit der indigenen Bevölkerung als auch die Konflikte mit den kapitalistischen Investoren, die die spektakuläre Landschaft ökonomisieren wollten, folgen einem sehr oft gesehenen Genre-Skript.

Das Langfilmdebüt von Eduardo Nunes’ „Sudoeste“ („Südwesten“) dagegen sucht eher den Anschluss an den zeitgenössischen Festivalfilm. In kraftvollem Schwarz-Weiß, das an Tarkowskis Kinomalerei erinnert, mit geheimnisvollen Klängen und langen, ruhigen Plansequenzen wird darin die fast geisterhafte Geschichte einer jungen Frau erzählt.

Eine der Stärken von „Première Brasil“ ist die Auswahl von Dokumentarfilmen. So erzählt „Os Últimos Cangaceiros“ („The Last Cangaceiros“) von Wolney Oliveira von einem fast hundertjährigen Paar, das in den 30er- und 40er-Jahren einer Bande von marodierenden Gesetzlosen aus dem Nordosten des Landes angehörte. Oliveiras Film arbeitet dabei immer wieder erstaunliche Archiv-Filmaufnahmen ein, die die Bande vor 70 Jahren von sich selbst gemacht hatte. Bisweilen erscheinen sie wie die brasilianischer Pop-Geschwister von „Bonnie und Clyde“.

Besonderer Fokus der Auswahl bilden dieses Jahr zwei Filme von Eduardo Coutinho, dem mittlerweile 79-jährigen Meister des simpel erscheinenden, nach und nach aber immer mehr Vielschichtigkeit freilegenden Dokumentarfilms. Mit „Cabra Marcado Para Morrer“ („Twenty Years Later“) von 1984 wird einer seiner Klassiker vorgeführt, und Coutinhos neuer Film, „As Canções“ („Songs“), erzählt von Liedern, die im Leben von etwa 20 Interviewten eine besondere Bedeutung einnehmen. Von der ersten Einstellung an spürt man das Vertrauen, das zwischen dem Regisseur und seinen Figuren herrscht. Sie sind eher Mitwirkende des Films als Befragte, und der Film transformiert sich nach und nach zu einem sehenswerten minimalistischen Musical.

■ Première Brasil: bis 18. 11. im Haus der Kulturen der Welt, Programm: www.hkw.de