Polen

Die Regierung in Warschau will selbst bestimmen, wer Richter wird. Viele BürgerInnen sind dagegen – genauso wie die EU-Kommission

Brüssel droht mit der „Nuklearoption“

EUROPA Die EU-Kommission zieht Entzug von Polens Stimmrecht im Ministerrat in Erwägung

BRÜSSEL taz | Fast eine Woche hat es gedauert, bis die EU-Kommission auf die umstrittene Justizreform in Polen reagierte. Noch am Dienstag wiegelte die Brüsseler Behörde ab: Die Reform sei noch nicht beschlossen, sagte der Sprecher von Kommissions­chef Jean-Claude Juncker. Deshalb sei auch keine Eile geboten. Man könne die Angelegenheit in aller Ruhe prüfen.

Doch nun zieht Junckers Stellvertreter Frans Timmermans überraschend neue Saiten auf. Nach einer turbulenten Kommissionssitzung drohte er dem EU-Mitgliedsland Polen am Mittwoch erstmals direkt mit der „Nuklearoption“: dem Entzug des Stimmrechts im Ministerrat. Zudem kündigte er ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren an.

Sollten die Reformgesetze der polnischen Regierung der na­tio­nalistischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in der gegenwärtigen Form umgesetzt werden, so hätte dies sehr schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Gerichte, erklärte Timmermans. „Diese Gesetze verstärken die systemischen Bedrohungen für die Herrschaft des Rechts.“ Zusammengenommen würden die Reformgesetze die Unabhängigkeit der Richter in Polen gänzlich aufheben und die Justiz unter die vollständige politische Kontrolle der Regierung stellen, so Timmermans weiter. Dies sei mit den Grundwerten der Europäischen Union nicht vereinbar. Die Regierung in Warschau müsse die umstrittenen Reformen daher zurücknehmen.

Ähnliche Forderungen hatte Timmermans bereits mehrfach erhoben – ohne Erfolg. Doch diesmal scheint er erstmals bereit, seinen Drohungen auch Taten folgen zu lassen. „Verstöße gegen den Rechtsstaat können wir niemals hinnehmen“, betont der Niederländer. Die historische Rückkehr Polens nach Europa stehe auf dem Spiel.

Selbst die „Nuklearoption“ erwähnte Timmermans so ernsthaft, als sei sie nicht mehr nur – wie bisher in allen Fällen – zur Abschreckung gedacht. „Wir entscheiden allein darüber, ob wir ein Artikel-7-Verfahren auslösen, sagte er. Dieser Artikel des EU-Vertrags sieht bei „schwerwiegender und anhaltender Verletzung“ der darin verankerten Werte als ultimative Strafe eine Aussetzung der Stimmrechte des entsprechenden Mitgliedstaats vor.

Auf die Frage eines britischen Journalisten, ob er Polen damit nicht zum Austritt aus der Europäischen Union treiben würde, gab sich Timmermans erstaunlich cool. „Ab einem bestimmten Zeitpunkt können Sie sich nicht mehr damit herausreden, dass Sie dieses oder jenes riskieren“, erwiderte er. Dieser Zeitpunkt sei nun gekommen.

Die EU-Kommission will sich in einer Woche erneut mit der Justizreform im Mitgliedsland Polen befassen – und dann Entscheidungen fällen. Er habe „fast keinen Zweifel“, dass die Kommissare dann über Vertragsverletzungsverfahren entscheiden würden. Zudem sei die Behörde „sehr nahe daran, Artikel 7 auszulösen“, sagte Timmermans.

Dafür müsste die EU-Kommission allerdings noch eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat der EU gewinnen. Timmermans gab sich optimistisch, das zu schaffen. Er stehe bereits in Kontakt mit der estnischen Ratspräsidentschaft, die die Sitzungen des Ministerrats organisiert.

Für einen Entzug des Stimmrechts braucht es allerdings Einstimmigkeit. Die ungarische Regierung hat bereits angekündigt, einen entsprechenden Antrag per Veto zu blockieren. Am Ende könnte das Verfahren deswegen ausgehen wie das berühmte Hornberger Schießen – ergebnislos. Eric Bonse