Noch nicht mutlos, aber zu vielen Mucken bereit

JAZZFEST BERLIN Trotz ausgewiesener Sensationsarmut waren fast alle Konzerte ausverkauft – auch weil das Gegenfestival Total Music Meeting ausfallen musste

Zwischen isländischem Partyfunk, südafrikanischer Folklore und Memphisrock vermeidet das JazzFest jegliche Festlegung

Cornel West konnte nicht kommen, berichtet der Trompeter Terence Blanchard beim Gespräch in Berlin. Die Botschaft des prominenten afroamerikanischen Intellektuellen hat Blanchard für seine neue CD, „Choices“, verwendet, für die er ein längeres Gespräch mit West führte und es dann sampelte. West attackiert den latenten Rassismus, die Konsumorientierung des schwarzen und weißen Amerika und die Schwächen der Eliten. Er sehe sich als Jazzmensch in einer Welt der Ideen, sagt West – doch beim JazzFest Berlin ging es zunächst um die Vorgeschichte und somit, ungewöhnlich genug, um die europäische Erstaufführung eines älteren Werks: Mit „A Tale of God’s Will (A Requiem for Katrina)“ wurde das Berliner Jazzfestival in diesem Jahr feierlich eröffnet.

Befürchtungen, dass jenes Stück zu weichgespült klingen könnte, weist Blanchard gar nicht von sich. Bei dieser Komposition ging es um Befindlichkeit, um Trauer und Empathie und noch nicht wie auf der neuen CD um Analyse, Dissens und Konsequenz, erläutert Blanchard. Vor über drei Jahren schon hat er den Soundtrack zu Spike Lees Post-Katrina-Dokumentation „When the Levees Broke: A Requiem in Four Acts“ aufgenommen. Auf der Bühne erzählt er jetzt zwischen den Stücken, wie er seine Heimatstadt in jenen Tagen, als die Deiche brachen, erlebt hat; Auf den Fotos, die während der Aufführung auf eine große Leinwand projiziert werden, ist das Ausmaß der Zerstörung durch den Hurrikan im August 2005 dokumentiert. Das Deutsche Filmorchester Babelsberg und das Blanchard Quintett machen einen guten Job, auch wenn sie über die musikalische Illustration hinaus kaum gefordert werden. Lediglich der Saxofonist Brice Winston und Blanchard glänzen in Solopassagen, als Epilog gibt es schwarze Trauermusikhaltung mit jener traditionellen Melange aus Abschied, offenen Fragen und hoffnungsvollem Ausblick – allemal ein stimmungsvoll gelungener Auftakt für ein wegen ausgewiesener Sensationsarmut arg in die Kritik geratenes Festival.

Dass die Jazzplattenfirma Blue Note in diesem Jahr 70 Jahre alt wurde, gab den Anlass zu einem JazzFest-Programmschwerpunkt mit Konzerten, Fotoausstellung und Backstage-Gesprächen. Blue-Note-Chef Bruce Lundvall, der zusammen mit dem Produzenten Michael Cuscuna eigens dafür nach Berlin gereist war, konnte das traditionsreiche Jazzlabel ausgerechnet durch eine Popentdeckung vor dem Aus bewahren. Mit Norah Jones verhalf er Blue Note zwar noch einmal zu schwarzen Zahlen, doch die großen Zeiten, da man auch mit Instrumentaljazz Geld verdiente, sind längst vorbei. „Das können die Musiker, die ihre CDs selbst produzieren und verlegen und dann online und bei ihren Konzerten verkaufen, heute viel effizienter als eine Plattenfirma“, sagt der 73-jährige Lundvall, der nächstes Jahr in den Ruhestand gehen wird. Zu den spannendsten jungen Musikern zählt Lundvall den afroamerikanischen Pianisten Jason Moran, der beim JazzFest mit dem Overtone Quartet im Haus der Festspiele auftrat, und den Pianisten Vijay Iyer, der im Quasimodo zwar ein viel beachtetes Triodebüt gab, das Publikum dort mit seinen abstrakt-diffizilen Improvisationsstrukturen jedoch nicht wirklich erreichte.

Zwischen isländischem Partyfunk, südafrikanischer Folklore und Memphisrock vermeidet das JazzFest-Programm jegliche Festlegung; mutlos wirkt es deshalb zwar noch nicht, aber eben zu vielen Mucken bereit. Dass fast alle Veranstaltungen ausverkauft sind, gehört bestimmt zu den guten Nachrichten dieses Jahrgangs. Umso ärgerlicher, dass diese Zeichen von der offiziellen Kulturpolitik so gar nicht erkannt werden. So fiel das traditionell parallel zum JazzFest stattfindende Total Music Meeting, 1968 als Gegenfestival zu den Berliner Jazztagen gegründet, in diesem Jahr ersatzlos aus. Standen dem TMM 2008 noch 22.000 Euro aus der Projektförderung der Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten zur Verfügung, wurden in diesem Jahr nur noch 3.760 Euro in Aussicht gestellt. Ein Skandal, der sich allerdings schon sukzessive abzuzeichnen drohte, nachdem das TMM vor zehn Jahren den Berliner Haushaltstitelstatus von 224.000 DM jährlich verloren hatte. Die Veranstalter erklärten unterdessen, für ein weiteres Festival im nächsten Jahr bereit zu sein; seitens der Berliner Kulturpolitik sind Korrekturen nun dringend angezeigt.

Ein Repertoire, das ungewohnt selbstverständlich noch vor dem Free Jazz und der darauf folgenden Unübersichtlichkeit datiert, spielt der 91-jährige Pianist Hank Jones bei seinem umjubelten JazzFest-Auftritt. Gekrönt von Ben Tuckers „Comin’ Home Baby“, interpretiert er die afroamerikanische Musikgeschichte mit Stolz und Eleganz und dem Wissen, dass in dieser Musik schon immer über die großen Themen des Lebens improvisiert wird. CHRISTIAN BROECKING