Exklusion Unser Autor hat seinen Sohn auf eine Förderschule geschickt. Nur dort kann er lernen
: Nikita braucht Schutz

An der Helene-Haeusler-Schule findet Nikita alles, was er braucht

von Thomas Gerlach
(Text) und Karsten Thielker (Fotos)

Die Hühner, Nikitas Lieblingstiere, scharren auf dem Kinderbauernhof, doch unerreichbar in einer Voliere. Und so setzen wir uns an das Becken, wo zur Freude der anwesenden Schulkinder Karpfen und Goldfische hungrig ihre Kreise ziehen. Immer wieder stoßen die Karpfen dabei mit ihren Mäulern durch die Wasseroberfläche. In Wasser ist Nikita vernarrt, das wissen wir, in Karpfen offenbar weniger. Jedenfalls beginnt er, sich mit seiner kleinen Faust rhythmisch zu schlagen, auf die Nase, auf die Wange, auf die Nase, auf die Wange. „Nikita, alles ist gut!“, beruhige ich ihn und halte seine Hand.

„Warum macht er das?“ Der Junge, der ihn beobachtet hat, ist vielleicht acht Jahre, so alt wie Nikita heute wird. Das Picknick am Stadtrand, der Besuch bei den Ziegen, den Waschbären, den Hängebauchschweinen ist unser Geburtstagsgeschenk. „Nikita ist ein bisschen anders“, versuche ich zu erklären. „Er schlägt sich, wenn er aufgeregt ist. Er schlägt sich, wenn er sich ärgert, und wenn er sich freut, schlägt er sich manchmal auch.“

Kinder sind neugierig, wenn sie Nikita sehen. Wenn er bei seinem älteren Bruder Ilja auf dem Schulhof erscheint, ist er bald umringt. „Warum schreit er so?“ „Kann er nicht sprechen?“ „Warum braucht er noch Windeln?“ Die Kinder wollen Nikita verstehen, Berührungsängste gibt es keine, und Ilja ist in solchen Momenten stolz, so einen Bruder zu haben.

Könnte das nicht der Schulalltag sein? Meine Frau und ich haben uns vor zwei Jahren gegen die Regelschule entschieden und Nikita auf einer Förderschule angemeldet. Vor acht Jahren wurde er mit Down­syndrom und Herzfehler geboren. In Laufe seiner Entwicklung wurde zudem ein sogenannter atypischer Autismus diagnostiziert.

Kopf gegen Tisch

Das heißt, dass Nikita für einen Menschen mit Downsyndrom eher untypische Verhaltensweisen zeigt, sich in stereotype Handlungen versenkt, das Alleinsein liebt. Seine Sprachentwicklung ist verzögert, Nikita ist mit acht Jahren noch nicht trocken, benötigt beim An- und Ausziehen Hilfe, muss beim Essen unterstützt werden, und er neigt zur Autoaggression. Kurzum – für seine Entwicklung braucht er geschützte Räume und Menschen mit sehr viel Geduld.

Eine gute Kita hatten wir im zweiten Anlauf gefunden. Wie aber würde es mit der Schule werden? Als das letzte Kitajahr anbricht, wird es Zeit, darüber nachzudenken. Nikita wird eine lange Eingewöhnungsphase benötigen. Bisher brachte jeder Betreuerwechsel Rückschritte und verstärkte Selbstverletzungen.

Der Übergang zur Schule würde schwierig werden. Wo wäre das überhaupt möglich? In einer Regelschule? Die Schule, in die Nikitas älterer Bruder Ilja geht, ist eine gute Schule – für Ilja. In Gedanken sehe ich Nikita dort schon zwischen zwanzig anderen Kindern auf einem der Stühle sitzen.

Was wird er, der nicht sprechen kann, tun? Er wird eine Weile still dasitzen, dann plötzlich die Brille wegwerfen und seinen Kopf so lange auf die Tischplatte schlagen, bis die Stirn rot ist vor Blut.

Über die Regelschule

Was wird er, der nicht sprechen kann, tun? Er wird eine Weile still dasitzen, dann plötzlich die Brille wegwerfen und seinen Kopf so lange auf die Tischplatte schlagen, bis die Stirn rot ist vor Blut

Unglaublich beruhigend

Drei Förderschulen mit Schwerpunkt Geistige Entwicklung – Schulen also für Menschen mit geistiger Behinderung – gibt es in unserem Bezirk, erfahren wir. Als Erstes besuchen wir eine evangelische Schule. Was wir finden, sind hervorragend ausgestattete Klassenräume, kleine Gruppen, engagierte Mitarbeiter, dazu therapeutische Lehrmittel, Kreativräume, und das alles in einem neuen Gebäude, umgeben von einem park­ähnlichen Hof. Nichts von dieser Beengtheit, die wir aus dem Kindergarten kennen.

Mir werden die Augen feucht. Das hatte ich nicht erwartet. Es hat etwas so unglaublich Beruhigendes, dass es einen Ort für Nikita gibt, der zu ihm passt. „Schauen Sie sich ruhig auch noch andere Schulen an“, empfiehlt die Schulleiterin. Ich halte das für unnötig. Kann es einen besseren Ort geben?

Es gibt ihn. Wochen später besichtigen wir die Helene-Haeusler-Schule, ganz in der Nähe des Alexanderplatzes, eine Schule in staatlicher Trägerschaft. Es ist alles genauso überzeugend wie in der ersten Schule, allerdings liegt diese deutlich verkehrsgünstiger und verfügt als Highlight zudem über ein Schwimmbad mit absenkbarem Boden. Ich bin sprachlos. In den höheren Klassen gibt es auch Flirtkurse und Sexualkundeunterricht, erzählt die Konrektorin. Für Nikita ein bisschen früh, denke ich, aber beruhigend, dass das nicht ausgespart wird. Bei der Einschulungsfeier in der Aula klettert Nikita zu den älteren Kindern auf die Bühne.

In Nikitas Klasse sind eine Lehrerin und zwei bis drei Erzieherinnen für sieben Kinder verantwortlich. Die Gruppe hat zwei Klassenräume, einer mit Küchenzeile. Der Tag beginnt mit einem Frühstück als Teil des Lehrplans. Es gibt für das Wechseln der Windeln Waschräume und geräumige Toiletten. Es gibt Räume für die Therapeuten, die in der Schule arbeiten. Es gibt Ruhezonen, sogenannte Snoezel­räume, einer davon mit Wasserbett. Es gibt die Schwimmhalle, es gibt eine Turnhalle, eine Bibliothek, eine Aula, einen Schulgarten mit Hochbeeten, das ist wichtig für Rollstuhlfahrer, es gibt ein Schülercafé, breite Flure, Aufzüge, Rampen und am Eingang eine Automatiktür. Ein Segen, denn gelegentlich muss ich Nikita, wenn er nicht laufen will, immer noch hineintragen.

Ein Jahr lang, so besprechen wir mit der Rektorin, soll die Eingewöhnungsphase dauern. Nikita hat früher Unterrichtsschluss. Wir beobachten ihn besonders aufmerksam. Schlägt er sich? Was fällt den Therapeutinnen auf?

„Helferkonferenz“ – so nennen wir die halbjährlichen Treffen, die es schon seit der Kindergartenzeit gibt. Es ist eine Gesprächsrunde, an der Nikitas Lehrerin, seine Erzieherin, die drei Einzelfallhelfer, die Sozial­ar­bei­terin aus dem Sozialpädia­trischen Zentrum, die Schulleiterin, die Therapeutinnen und meine Frau gemeinsam Nikitas Fortschritte, Schwierigkeiten und Lösungen besprechen. „Da sitzen lauter studierte Leute zusammen, alles deinetwegen“, sage ich Nikita, als so ein Treffen stattfindet. Er schaut mich mit offenem Mund an, als wäre es das Normalste der Welt.

Er öffnet sich

Das Highlight: ein Schwimmbad mit absenkbarem Boden

Die Eingewöhnung verläuft viel besser als gedacht. Ausgerechnet das Schwimmbecken bereitet die größten Schwierigkeiten. Es ist riesig. Die anderen sechs planschen längst, doch Nikita weigert sich hineinzugehen. Nach Monaten des Lockens steigt er endlich hinein. Es ist ein Triumph! Seine Betreuerin schickt uns sofort Fotos. Allerdings protestiert er noch heute heftig, wenn der Boden auch nur um einen Zentimeter weiter abgesenkt wird.

Nikitas Blick ist offener geworden, selbstbewusster. Wir können gut mit ihm kommunizieren. Er benutzt Gebärden, liebt Bilderbücher. „Buch“, sagt er und deutet mit den Hand­flächen ein Buch an, wenn er eines sucht. Menschenmengen nimmt er gelassen. Er schlägt sich seltener. Im vergangenen Sommer sind wir mit dem Auto quer durch Südosteuropa gefahren. Es war auch ein Versuch. Würde Nikita die häufigen Ortswechsel akzeptieren? Er hat es genossen. Wir haben gestaunt.

Nikita bekommt auf seiner Schule die Förderung, die er braucht. Er bekommt Hilfe, Anerkennung und Zuwendung. Er wird lernen, sich zu steuern und seine Bedürfnisse so auszudrücken, dass andere darauf eingehen.

Als Erwachsener kann er in einer Wohngruppe ein eigenständiges Leben führen, Freundschaften aufbauen und eine Partnerschaft eingehen. Er wird eine Aufgabe übernehmen, die ihn erfüllt. Er könnte sich auf einem Bauernhof um die Hühner kümmern oder in einer Gärtnerei arbeiten. Vielleicht wird er aber auch Mitglied in der ersten Mission von Menschen mit Downsyndrom, die ins All fliegt. Denn wer, wenn nicht sie, wären geeignet, die Außerirdischen von den friedlichen Absichten der Erdbewohner zu überzeugen?