Hilfe für Russlands Selbsthilfe

WIDERSTAND Junge Russen hier unterstützen soziale Innovationen zu Hause. Einige wollen auch in Hamburg demonstrieren

Es ist der 12. Juni 2017, der russische Nationalfeiertag. Vor der russischen Botschaft in Berlin Unter den Linden hüpfen etwa vierzig russischsprachige junge Leute in der Sonne. Sie tragen Transparente, „Medwedjew muss weg!“, und lassen Gummientchen qietschen – in Russland ein Symbol für die Korruptheit des russischen Ministerpräsidenten. Zur Demonstration haben sie sich über Freundesnetze verabredet, auch Tatiana, 28.

Im südrussischen Krasnodar hatte sie als Chirurgin gearbeitet, ehe sie vor drei Jahren nach Deutschland kam. Jetzt jobbt sie als Krankenschwester in Kiel. Obwohl ihr erneutes medizinisches Staatsexamen bevorsteht, fährt sie auch zum G20-Gipfel nach Hamburg, um dort zu protestieren. Über die internationale Politik denkt sie viel nach.

Der Westen habe Putin gegenüber bisher den richtigen Ton angeschlagen, meint sie. „Die Leute um Putin sind Verbrecher. Falls ihr ihnen Konzessionen macht, werdet ihr am Ende selbst darunter leiden.“ Die meisten russischen Putin-Gegnerinnen in Deutschland sind mobil, jung, hochgebildet und polyglott. Sie sehen in Russland keine Perspektive mehr für sich.

Im Dezember 2011 protestierten in Moskau und Sankt Petersburg Hunderttausende nach Fälschungen bei den Dumawahlen. Damals lernten sich russische Oppositionelle kennen, als sie eine Solidaritätsdemonstration in Berlin organisierten, und schlossen sich zur Vereinigung „Dekabristen e. V.“ zusammen – getauft nach einer Gruppe Adeliger, die sich im Dezember – russisch: Dekabr – 1825 in Sankt Petersburg gegen das Regime des Zaren erhoben.

Sergey Medvedev, 33, ist ein Berliner Dekabrist der ersten Stunde. Er demonstrierte erneut am 15. März 2014 vor der russischen Botschaft – damals nach der Annexion der Krim durch russische Truppen. Er trug damals ein Plakat: „Ich schäme mich, Russe zu sein“. Der ursprünglich aus Woronesch stammende, vielsprachige Politikwissenschaftler ist jetzt bei dem Verein fest angestellt und residiert in dessen einzigem Büroraum mit Blick auf einen grün umwucherten Berliner Kanal.

Die DekabristInnen haben nicht vor, zum G20-Gipfel in Hamburg zu demonstrieren. Von konkreten Projekten mit BürgerInnen aus Russland, Weißrussland und der Ukraine versprechen sie sich mehr. In den letzten Jahren haben sie – von mehreren Stiftungen, vom Auswärtigen Amt, von der Aktion Mensch – finanzielle Unterstützung für zahlreiche zivilgesellschaftliche und kulturelle Seminare und Festivals akquiriert.

Auf von Sergey betreuten Seminaren für soziales Unternehmertum im postsowjetischen Raum holten sich seit 2015 Hunderte junger HoffnungsträgerInnen Know-how für eigene soziale Start-ups, für ökologische Projekte, für die Inklusion von Behinderten, für Arbeit mit Flüchtlingskindern.

„Wenn ich sehe, wie viele Möglichkeiten Russland mit seinen zahlreichen Völkern und Kulturen in sich birgt“, sagt Sergey, „dann frage ich mich, wie es eigentlich sein kann, dass im Jahr 2017 noch eine solche Hetze gegen Homosexuelle in staatlichen Medien stattfindet.“ Trotzdem hofft er, dass seine Projekte seiner Heimat nützen mögen.

Auch die in Sotschi ge­borene Olga Sokolova, 29, stellver­tretende Vorstandsvorsitzende des Dekabristen e. V., freut sich über das aufblühende private soziale Engagement in Russland, gibt allerdings zu bedenken: „Es ­ersetzt zunehmend den Staat, der die meisten seiner ­Verpflichtungen gegenüber den Bürgern völlig vernachlässigt.“

Die Kulturwissenschaftlerin Sokolova bastelt für den Verein Dekabristen e. V. an der Internet-Plattform Humanpoint.org mit Texten über den Nutzen der Sozial- und Geisteswissenschaften. Ihr Traum: Am liebsten würde sie in Russland als Journalistin arbeiten. Dafür sieht sie aber kaum Möglichkeiten: „Die Medien müssen wieder normal funktionieren dürfen. Erst muss die jetzige politische Elite völlig ausgewechselt werden.“

Barbara Kerneck