„Wir feiern unsere Mängel“

Party Bei der Pride Parade rollen und laufen „Freaks und Krüppel, Eigensinnige und Blinde, Taube und Normalgestörte“ durch die Stadt, so die Veranstalter. Es gehe darum, so Kämpfe von Behinderten und Menschen mit Psychatrieerfahrung zusammenzuführen

„Der Begriff ‚Teilhabe‘ ist verbrannt – deshalb fordern wir ‚ganzhaben statt teilhaben‘ “: auf der Pride Parade 2013 Foto: Piero Chiussi

Interview Anne Pollmann

taz: Herr Kralj, auf der Pride Parade wird „behindert und verrückt“ gefeiert, so der Slogan. Worum geht es dabei genau?

Matej Kralj: Wir sind Menschen mit Behinderungen, Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und ihre Unterstützer*innen. Wir gehen jetzt zum fünften Mal auf die Straße, um gegen eine Gesellschaft zu protestieren, die Menschen, die nicht in Normen passen, ausgrenzt und stigmatisiert. Wir wollen selbstbestimmt leben und wehren uns dagegen, in Psychiatrien eingesperrt zu werden, in Behindertenwerkstätten arbeiten zu müssen und in Wohnheimen leben zu müssen. Mit der Parade feiern wir unsere – wie die Gesellschaft es sieht – Mängel und zeigen, dass wir uns nicht ­schämen, sondern stolz darauf sind.

In Ihren Texten verwenden Sie allerhand abwertende Begriffe.

Wir benutzen diese Wörter als Selbstbezeichnung und als positive Aneignung abwertender Begriffe.

Frau Franz, was wollen Sie mit der Pride Parade erreichen?

Die Pride Parade findet am kommenden Samstag statt. Sie startet am Neuköllner Hermannplatz um 15 Uhr und führt über den Kottbusser Damm in Richtung Heinrichplatz. Über die Oranienstraße rollt und geht die Demo zurück zur Abschlusskundgebung vor dem Südblock am Kottbusser Tor. Dort wird die Glitzernde Krücke verliehen, der Antipreis für besonders menschenfeindliches Engagement.

Im Anschluss treten die HipHop-Acts Alice Dee, FaulenzA, Babsi Tollwut und Carsten auf. Ausklang findet die Demo auf der Party im Südblock.

Die Pride Weeks, die Wochen der queeren Community, laufen bereits – sie haben aber mit der Pride Parade nichts zu tun. Höhepunkt der Pride Weeks ist das Lesbisch-schwule Stadtfest am Wochenende am Nollendorfplatz. Am 22. Juli ist CSD. (taz)

Paula Franz: Es geht uns um eine Art Empowerment. Das heißt: Wir wollen gemeinsam die Straße erobern, uns so zeigen, wie wir sind, und zeigen, dass wir gut sind, wie wir sind – im Gegensatz zu den Verhältnissen, in denen wir leben. Es geht uns mit der Parade darum, die Kämpfe von Behinderten und Menschen mit Psychatrieerfahrung oder psychiatrischen Dia­gnosen zusammenzuführen, und zwar emanzipatorisch, ­radikal und kapitalismuskritisch.

Herr Drebes, das Motto der diesjährigen Pride ist „ganzhaben statt teilhaben“. Was steckt dahinter?

Sven Drebes: Der Begriff „Teilhabe“ ist ja fast schon Modebegriff. Er sollte ursprünglich mal heißen, dass jede*r überall mitmachen kann. Aber in der Praxis sieht das anders aus. Gerade behinderte und verrückte Menschen kriegen oft nur Krümel hingeworfen, die dann Teilhabe genannt werden. Zum Beispiel, dass man 35 Stunden die Woche in einer Werkstatt mit behinderten Menschen arbeitet, aber nur 200 Euro dafür bekommt. Oder dass man in Wohngruppen mit sieben bis zehn Leuten leben muss, wo man zwar theoretisch jederzeit rauskann, aber praktisch nicht die Unterstützung da ist, damit jeder sein Leben leben kann, wie er will. Der Begriff „Teilhabe“ ist verbrannt – und darum fordern wir „ganzhaben statt teilhaben“.

Frau Franz, 2016 wurde das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Gibt es positive Entwicklungen?

Paula Franz: Viele haben gehofft, dass das Bundesteilhabegesetz einiges ändern würde. Das, was letztes Jahr beschlossen wurde, hat die Erwartungen aber absolut nicht erfüllt. Es wurden sogar neue Möglichkeiten geschaffen, selbstbestimmtes Leben zu verhindern. Auch Institutionen wie die Psychia­trie gibt es weiterhin. In Berlin wurde zudem mit dem neuen Psychisch-Kranken-Gesetz Zwangsbehandlung erneut legalisiert. Das Gesetz ermöglicht es, Menschen mit psychiatrischen Diagnosen im Fall akuter Selbst- oder Fremdgefährdung gegen ihren Willen in der Psychiatrie unterzubringen. Darauf haben wir keine Lust.

Wen wollen Sie mit der Pride Parade ansprechen?

Paula Franz: Das Motto ist ja „Behindert und verrückt feiern“, das heißt, wir wollen vor allem Freaks und Krüppel, Verrückte und Lahme, Eigensinnige und Blinde, Taube und Normalgestörte ansprechen. Un­ter­stüt­zer*innen sind natürlich auch eingeladen. Uns ist wichtig, dass viele Menschen zur Parade kommen, die sonst nicht auf Demos gehen. Es versammelt sich nicht die übliche linke Szene, sondern es kommen Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen betroffen fühlen und deren ­Themen sonst selten aufgegriffen werden. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass am Hermannplatz 50 Rollstuhlfahrer*innen stehen und sehnlich darauf warten, dass es endlich anfängt.

Matej Kralj: Die Parade will jede*n ansprechen, der das Gefühl hat, gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein, und feststellt: „Das verfolgt mich und ich habe genug davon!“

Die Interviewpartner

Paula Franz, Sven Drebes und Matej Kraljsind Teil des Organisationsbündnisses der diesjährigen „Behindert und verrückt feiern – Pride Parade“. Die Idee ist nicht neu: Den Mad Pride in Toronto gibt es bereits seit 25 Jahren, angelehnt an die Idee der Gay (LGBTI) Prides.

In Deutschland wurde die Parade im Jahr 2013 zum ersten Mal organisiert. Sie ist entstanden auf Initiative des ak moB und des AK Psychiatriekritik. Finanziert wird der Umzug vor allem durch Spenden, partei- und verbandsunabhängige Fördermittel sowie einen guten Teil Eigen­initiative. (taz)

Was machen Sie selbst, um möglichst vielen Leuten die Teilnahme an der Parade zu ermöglichen?

Paula Franz: Wir versuchen, eine nicht zu lange, gut zugängliche und gut berollbare Strecke zu finden. Es gibt rolligerechte Toiletten; das ganze Programm wird in deutsche Gebärdensprache gedolmetscht. Es gibt Kommunikationsassistenzen, also Leute, die zwischen Lautsprache und Gebärdensprache vermitteln, und einen Ruhewagen am Ende der Demo. Dazu eine Unterstützungsgruppe, also Leute, die schauen, dass es allen gut geht, und die ansprechbar sind. Und wir achten auf leichte Sprache. Alle Redebeiträge bekommen vorher nochmal einen Barrierecheck.

Sven Drebes: Aber man kann nicht alles von vornherein im Kopf haben. Wir lernen auch jedes Jahr dazu.