„Wie ein Schneewittchensarg“

SCHÖNER WOHNEN Sozialer Wohnungsbau ist selten der Inbegriff von Ästhetik. Das hat einerseits politische, andererseits pragmatische Gründe, sagt der Braunschweiger Bauhistoriker Michael Mönninger

■ 54, Professor für Geschichte und Theorie der Bau- und Raumkunst an der HBK Braunschweig, sitzt im Kunstbeirat des Bundesbauministeriums.

VON ARNE SCHRADER

taz: Herr Mönninger, von Ihrem Büro aus sehen Sie eine Hochhaussiedlung mit vielen Sozialwohnungen. Finden Sie die schön?

Michael Mönninger: Nein. Aber das ist bei jeder Stadtrandsiedlung bundesweit das Gleiche. Das sind öffentliche Bauprogramme der 1960er-Jahre gewesen, oft mit geringsten Mitteln finanziert. Normierung und Effizienz waren damals die Maxime. Die Gebäude wurden wie im Maschinenbau aus vorgefertigten Teilen hergestellt.

Sind sie deshalb so uniform und unästhetisch?

Ja. Da sind die immer gleichen Grundrisse, Haustüren, Fenster und Baumaterialien: standardisierte Serienelemente aus einem festen Katalog lieferbarer Teile.

Aus welcher Tradition heraus sind solche Bauten entstanden?

Vor allem aus dem Hass gegen die bürgerliche, historische Stadt. Schon seit dem Ende des ersten Weltkrieges machte man die alten Städte für alles Unglück verantwortlich. Es entstand eine Ideologie des Eigentums in öffentlicher Hand; aller Grund und Boden sollte radikal vergesellschaftet werden. Grundgedanke war das Idealbild einer Stadtlandschaft. Eine Versöhnung von Natur und Stadt.

Was geschah tatsächlich?

Erst einmal musste sich die westdeutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg um die zwölf Millionen Flüchtlinge aus dem Osten kümmern. Aus dieser Zeit stammen die frühen Siedlerhäuschen in überschaubarer Zeilenbebauung, zum Beispiel hier direkt neben der Braunschweiger HBK. Sie haben meist drei Etagen, einen erkennbarem Eingang und einen Bezug zur Straße. Ein krasser Gegensatz zu den an Perversität kaum zu überbietenden Wohngebirgen am Stadtrand, die man später baute. Hier hätte man stattdessen auf Instandsetzung und Eigentumsbildung innerhalb der Städte setzen müssen.

Ist das das einzige Problem?

Nein. Hinzu kommt, dass wir seit 1945 unsere Städte um das Automobil herum bauen. Die Erreichbarkeit der Städte ist wichtiger als der eigentliche Aufenthalt. Auch das Fehlen persönlicher Gestaltungsmöglichkeiten ist ein Faktor. Wenn jemand sein eigenes Stück Grund und Boden – und sei es nur auf der Etage – besitzt, entwickelt er einen ganz anderen Ehrgeiz. In den Sozialsiedlungen kommt der ferngesteuerte Hausmeister bestenfalls einmal im Monat vorbei, um eingeschlagene Scheiben zu flicken.

Können solche Wohnverhältnisse soziale Brennpunkte erzeugen?

Natürlich ziehen dorthin Leute, die keine andere Wahl haben. In Hamburg-Mümmelmannsberg zum Beispiel bietet die Wohnungsgesellschaft SAGA Studenten an, ein halbes Jahr mietfrei zu wohnen. Aber keiner will dahin. Weil dort eine soziale Homogenität herrscht, die schnell in Verwahrlosung umkippt. Es gibt aber auch funktionierende Beispiele für Massensiedlungen mit lebendiger sozialer Mischung: die Altbauquartiere von Berlin-Kreuzberg bis Hamburg-Altona zum Beispiel.

Wie könnte man das Problem lösen?

Gerade bei Mittelstädten wie Braunschweig herrscht ein gewisser Ressort-Egoismus bei Verwaltung und Bauträgern. Keiner redet mit dem anderen. So wurden Projekte wie zum Beispiel das Raumlabor der HBK nicht zur City-Belebung in der Innenstadt platziert, sondern am anderen Ende der Stadt, wo es niemandem nützt. Man brauchte eine Art Stadt-Intendanten, der die verschiedenen Parteien und ihre divergierenden Interessen zusammenbringt.

Gibt es auch positive Beispiele?

Ja. Es gibt kleine Baugruppen, also Verbünde aus vier bis fünf privaten Investoren, die sich ein Mehrparteienhaus bauen. Diese Akteure sind gewissermaßen die Hefe im Sauerteig der Städte. Für die öffentliche Planung ist deren Betreuung zwar anstrengend. Aber auch professionelle Investoren setzen inzwischen wieder stärker auf den Wohnungsbau.

Kann es trotz allem „schöne“ Sozialwohnungen geben?

Es gibt wunderbare Ansätze, etwa bei den Architekten Lacaton und Vassal, die in der Pariser Vorstadt eine Hochhausfassade abgerissen und durch Wintergärten ersetzt haben. Das Haus ist jetzt lichtdurchflutet und sieht aus wie ein Schneewittchensarg.