WIE HOCH IST DIE EINTRITTSWAHRSCHEINLICHKEIT EINER VOLLSTÄNDIGEN AUSWECHSLUNG DER BEVÖLKERUNG IM REUTERKIEZ? UND WEISS DIE BANK SCHON DAVON?
: Die ganze Wahrheit über den Reuterkiez

VON KATHRIN RÖGGLA

Gehen wir gleich aufs Ganze, fangen wir mit dem Maybachufermarkt an. Viel ist über ihn geschrieben worden, das meiste davon stimmt nicht. Schon mal die Statistiken: Es gibt ja die einen Statistiken und die andern. Ungefähr 50 Prozent Englisch hören wir heute hier, stöhnen die einen, und davon ungefähr 45 Prozent mit New Yorker Akzent. Stimmt schon mal nicht, aber stört niemand. Mit ungefähr 20 Prozent Griechisch haben wir es zu tun, Fluchtgriechisch, kommt von der anderen Seite, Kapitalfluchtgriechisch. Türkisch sei Old School. Na ja, sagen dritte: Habt eben keine Ahnung!

Übrigens, beginnen die einen wieder, gibt es jetzt ältere skandinavische oder dänische Ehepaare, die sich einen Neuköllnurlaub leisten, den sie aber Berlinurlaub nennen, weil sie zu 70 Prozent in die dafür üblichen Museen gehen. Und, kontern die anderen: Man höre jetzt an manchen grauen Morgen Onegai-shimasu-Rufe im U-Bahnhof Schönleinstraße und bekomme Szene-Reis-Onigiris in die Hand gesteckt, von mittellosen Künstlern zusammengesteckt, ob man wolle oder nicht. Nachts dort Performance! Stimmt nur zur Hälfte, echoen die einen wieder.

Was zu 100 Prozent stimmt, ist, dass der Stadtteilheilige im Café W. sitzt und Gentrifizierungsablässe austeilt. Manchmal auch im Goldberg, je nach Wetterlage. Er bezeichnet es als Marktlücke, hat aber in Wirklichkeit Probleme, die Nachfrage zu bedienen. Der Totalablass ist mittlerweile teuer geworden, also mit Mehrwertsteuer und Pipapo kann sich „unsereins“ den nicht mehr leisten, es sei denn, man ist eines dieser New Yorker Schwebeteilchen, und selbst die können sich noch schuldig machen, aber mehr in modischen Fragen, Parkplatzusurpierungen, falschen Erziehungsansätzen. Aber Letztere werden schon von den Ureinwohnern, also denen, die länger als drei Jahre hier wohnen, gern vereinnahmt.

Sie sehen, bei uns hier ist alles in Bewegung, selbst der Maybachufermarkt verschwimmt immer mehr vor unseren Augen, und zwar tut er das in drei Richtungen: Türkenmarkt, Designmarkt oder Flohmarkt. Alle drei geben vor, sich nicht zu kennen, nur die Anwohner halten das für einen Zusammenhang, den sie rundherum ablehnen. Auch ich bin Anwohnerin, Anrainerin und obendrein mit 16 Jahren im selben Haus absolutes Urgestein. Ich darf also wirklich reden, während andere nur unwirklich reden dürfen, das machen sie aber ziemlich viel. Sie sagen beispielsweise: Statistiken erklären uns die Welt, Stochastiken zeigen sie in Bewegung, insofern sind Letztere die eigentlich Interessanten. Wie hoch ist die Eintrittswahrscheinlichkeit einer vollständigen Auswechslung der Bevölkerung hier im Reuterkiez? Werden Rotationsmuster entstehen? Was ist mit der tatsächlichen Entwicklung des Immobilienmarktes? Und: Weiß die Bank schon davon? Macht die Berliner Sparkasse noch mit, und wie viele Hostels haben wir noch zu erwarten? Wer verdient eigentlich daran?

Also lieber zurück zu den Waldorferzieherinnen! Es gibt die offiziellen und die inoffiziellen, die geheimen und die echten, und alle tragen einen Kranz aus Mitmachmusik. Es heißt, Elternmitmachmusiken zerstören den Kiezzusammenhalt, Zieht-doch-weg!-Rufe durchkreuzen schon manche Mittagspausen von Bürogemeinschaften, zum Beispiel beim Nachtigallimbiss auf der anderen Seite des Kanals, beschwert man sich schon über den Lärm. Nur bei Musashi herrscht Ruhe, aber das liegt am Laden, um den herum Berlinfilme entstehen, in denen niemand, also absolut niemand arbeitet. Ich sage Ihnen, ich habe nicht die blasseste Ahnung, was hier wirklich geschieht!