„Wir brauchen Hochsensible“

Neuland Am Wochenende findet in der Lüneburger Heide der erste deutsche Kongress für Hochsensibilität statt. Organisatorin Kathrin Sohst erklärt, warum das wichtig ist

Tortur für Hochsensible, weil laut und mit Menschenmenge: Das Metal-Festival in Wacken Foto: Axel Heimken/dpa

Interview Katharina Kücke

taz: Frau Sohst, warum sollten wir uns mit Hochsensibilität beschäftigen?

Kathrin Sohst: Um gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Das Thema ist ja noch recht frisch. Also geht es erstmal darum das Thema in die Köpfe der Menschen zu kriegen. Hochsensible Menschen leiden nämlich oft an Krankheiten, die vermeidbar wären. Zum Beispiel weil sie sich übernehmen. Und auf der anderen Seite werden Potenziale verschenkt. Hochsensible verfügen über andere Stärken. Das steigert im Endeffekt auch die Produktivität der Unternehmen.

Wie unterscheiden sich Hochsensible denn von anderen?

Die amerikanische Psychologin Elaine Aron hat das mal so ausgedrückt: Im Grunde gab es immer schon die Krieger und die Berater. Es gab immer schon die, die ein bisschen härter waren und sich leichter durchsetzen können in schwierigen Situationen. Es braucht aber auch die, die auf Fehler aus der Vergangenheit hinweisen, reflektieren und Vorschläge machen wie man etwas besser machen kann.

Wo sind ihre Stärken?

Hochsensible haben ein hohes Qualitätsbewusstsein, sind häufig sehr kreativ, ganzheitlich denkend, vernetzend. Und wenn sie mit sich im Reinen sind, stellen sie ein gutes Klima her. Das ist wie Luft zum Atmen. Das sind so Dinge, auf die die Welt eigentlich nicht verzichten kann. Es braucht einfach Diversität. Unternehmen, die die vermeintlich Schwächeren rauswerfen, stellen sich also selbst ein Bein.

Woran erkennen Sie, dass eine Person hochsensibel ist?

Da ich selber hochsensibel bin daran, dass jemand ähnlich reagiert wie ich. Zum Beispiel daran, wie jemand auf Reize reagiert, ob er sich schnell erschreckt oder bestimmte Details mitbekommt. Wie die Person auf Lautstärke oder Menschenmengen reagiert. Aber auch wie differenziert sie Dinge wahrnehmen kann, wie genau sie etwas beschreiben oder reflektieren kann. Viele Hochsensible sind sehr empathisch oder durchdenken Dinge sehr genau. Es gibt kognitivere Hochsensible, die in ihrem Wissensgebiet ganz stark sind. Oder welche, die sich darum kümmern, dass es ihren Mitmenschen besonders gut geht.

Sind wir denn nicht alle in irgendeiner Weise sensibel?

Wir sind alle sensibel, ja. Und jeder kennt das Gefühl, dass alles zu viel wird. Aber es gibt definitiv Unterschiede. Der Physiologe Iwan Pawlow hat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bei akustischen Experimenten mit Menschen herausgefunden, dass 15 bis 20 Prozent früher an einer Schmerzgrenze sind. Das war noch lange, bevor Aron Ende der 90er den Begriff der hochsensiblen Person prägte.

Haben es Hochsensible dadurch schwerer?

Nicht grundsätzlich, aber viele Hochsensible sind in unserer „Schneller-Besser-Weiter-Höher-Gesellschaft“ leichter überreizt und gestresst – vor allem wenn sie nichts von ihrer Hochsensibilität wissen. Es gibt zwar Bereiche, in denen speziell Hochsensible gefragt sind, doch oft gibt es einen hohen Druck und es wird dauerhafte Einsatzfähigkeit gefordert. Es ist nicht so, dass wir Hochsensiblen nicht wollten, aber wir kommen eher an unsere Grenzen.

Wo zum Beispiel?

Das fängt bereits im Kindergarten an. Meine Kinder sind auch hochsensibel, und als wir neulich morgens auf dem Weg zum Kindergarten waren, hat da jemand gerade eine Hecke geschnitten. Und während alle anderen Eltern und Kinder an dieser Heckenschere vorbeigingen, machte meine Tochter einen riesigen Bogen um diesen Mann und hielt sich die Ohren zu. Ich komme mittlerweile damit klar. Aber ihr war das zu laut.

Also brauchen Hochsensible ein ruhigeres Umfeld?

In gewisser Weise ja. In der Arbeitswelt gibt es viele Großraumbüros. Für Hochsensible ist das auf Dauer eine echte Tortur. Vor allem, wenn es keine Möglichkeit gibt, flexibel Pausen zu machen. Das ständige Telefonklingeln, das Rattern der Tastaturen, Gerüche, die ganzen Beziehungen, Gespräche und Schwingungen – alle möglichen Geräusche und Dinge können sich auf die Wahrnehmung auswirken.

Hat es denn Sinn sich als hochsensible Person zu definieren?

Kathrin Sohst

Foto: privat

37, selbstständige Autorin, Beraterin und Mitorganisatorin des Kongresses. 2016 veröffentlichte sie ihr erstes Buch "Zart im Nehmen – wie Sensibilität zur Stärke wird" und schreibt derzeit an ihrem nächsten Buch.

Man kann sich damit identifizieren. Mit Definieren bin ich vorsichtig. Immerhin macht Hochsensibilität lediglich einen Teil der Persönlichkeit aus. Wenn man das Wissen also nutzt, um sich aus der Verantwortung zu ziehen, ist das ungünstig. Ich nutze es eher, um mich und meine Bedürfnisse immer wieder neu auszurichten. Ich habe von Vielen gehört, dass sie gelernt haben, besser auf sich zu achten. Und manche haben gar keine Probleme damit.

Wie kommt man dahin?

Ein erster Tipp ist erstmal sich selbst anzunehmen und sich darüber klar zu werden, dass die eigene Sensibilität so hoch ist. Denn solange man dagegen ankämpft, kämpft man im Grunde gegen sich selbst und gegen die eigenen Bedürfnisse an. Und das ist auf Dauer sehr anstrengend.

Warum brauchen wir gerade jetzt einen Kongress für Hochsensibilität?

Um die Wissenschaft voranzubringen. Mit dem Kongress schaffen wir ein wissenschaftliches Forum, auf dem Wissenschaftler sich austauschen können. Gleichzeitig treffen die Wissenschaftler bei unserem Kongress auch auf Fachleute wie Coaches, Berater oder Therapeuten, die mit Hochsensiblen arbeiten. Hochsensibilität ist ja ein relativ neues Konstrukt und erst seit 20 Jahren als Thema da. Deswegen braucht es Foren und Kongresse, um auch der Wissenschaft den Weg zu ebnen mehr in die Richtung forschen zu können.

Also richtet sich der Kongress auch an Menschen, die nicht hochsensibel sind?

Ja, klar. Es werden mit Sicherheit auch Leute da sein, die sich rein beruflich für das Thema interessieren. Der Kongress ist auch bei der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen und Bremen als Fortbildung für Ärzte und Therapeuten akkreditiert. Und es gibt am 1. Juli ein Programm für hochsensible Menschen, die sich informieren wollen.

Erster Kongress für Hochsensibilität in Deutschland, 30.06. – 01.07., Hotel Camp Reinsehlen in der Lüneburger Heide