Liebeserklärung
: Distanzierung

Die vieldimensionale Kommentierung der umstrittenen Antisemitismus-Doku war eine TV-Sternstunde

Kennen wir doch: Du wachst am nächsten Morgen auf, der Kopf dröhnt, und du fragst dich: Wen habe ich da alles im Rausch beleidigt, wen wieder nur geküsst? Aus der Distanz sehen die Dinge eben anders aus.

Der jüdische Intellektuelle Norbert Elias, der 1933 Deutschland verlassen musste, sprach der Distanzierung – freilich in anderem Kontext – eine besondere Wichtigkeit zu: Durch sie könne die Realität nüchterner erlebt werden, mehr noch: Erst durch die Distanzierung sei es möglich, die Kontrolle zurückzuerlangen.

Das haben an diesem Mittwoch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten versucht. Ihnen war etwas entglitten und dann seitens der Bild und auch seitens der taz – Achtung, Binnendistanzierung: zu Unrecht! – vorgeworfen worden, eine sogenannte #Antisemitismusdoku „zensiert“ zu haben, weil sich die Sendeanstalten entschieden hatten, eine handwerklich schlechte Dokumentation über Antisemitismus nicht auszustrahlen. So etwas passiert aber eben schon mal, so wie Zeitungen manchmal schlechte Texte nicht drucken.

Weil nun die Bild ihrerseits den ihr zugespielten Film im Internet vorführte, fühlten sich WDR, ARD und Arte gedrängt, ihn doch zu zeigen. Es wurde ein Feuerwerk der Distanzierung: eine Ausstrahlung, zeitgleich geschaltet mit fünf Dimensionen der Abstandnahme seitens des Senders: Vor Beginn wies ein Trailer auf die Unzulänglichkeiten hin; mit Einblendungen dreierlei Art kommentierte die öffent­lich-rechtliche Distanzierungskommission den Film dann, während er lief. Und schließlich wurde der Film bei „Maischberger“ leidenschaftlich beschimpft und verteidigt.

Manche sagten später, derart Unprofessionelles hätten sie selten gesehen. Aber es gibt auch einen anderen Blick auf diesen Abend der Transparenz, der zeigte, was bei journalistischen Produkten sonst selten zu sehen ist: Es ist ja eigentlich erst die Distanzierung vom Material, die es ermöglicht, Kontrolle darüber zu erhalten. Deshalb sollte man sich – sagen wir: aus taz-Perspektive – nie von der Distanzierung distanzieren, es sei denn, man will die Kontrolle verlieren.

Martin Kaul