Charme der neuen Normalität

Das Schicksal ist CDU: Erst fehlten die Ideen, dann die Wähler. Statt den Menschen Sinn und Orientierung zu bieten, predigte sie einen fatalen ökonomischen Determinismus

Nicht nur rund um die Gerechtigkeitsfrage haben sich in der Union ideenfreie Zonen ausgebreitet

Es wird am Ende wohl eine große Koalition geben, vielleicht auch eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung. Viele werden das als Ausdruck einer Krise beschreiben. Doch der historische Moment verweist nicht auf eine Krise, die eines Tages vorbei sein wird, sondern auf den Beginn einer Zeit, in der unwahrscheinliche Bündnisse, große Koalitionen und auch Minderheitsregierungen nicht länger die Ausnahme sein werden.

Das ist eine neue Erfahrung in Deutschland. Bisher folgten die Stabilitätsgewohnheiten einer einfachen Formel: Eine große und eine kleine Partei schaffen bei Wahlen eine parlamentarische Mehrheit, die dann einen Kanzler und damit eine Regierung wählt, die vier Jahre im Amt bleibt. Es war dies so normal wie vieles andere in früheren Zeiten: dass die Menschen mehrheitlich in die Kirche gingen, zu über neunzig Prozent verheiratet waren und Kinder hatten; ein Leben lang einem Beruf nachgingen, die Rente sicher war und es ihnen und ihren Kindern immer besser ging. So war es, und so sollte es sein. Ihren politisch sichtbarsten Ausdruck fand diese Normalität in den 1970er-Jahren, als in beiden Bundestagswahlen über neunzig Prozent der Wähler eine der beiden Volksparteien wählten, und das bei einer Wahlbeteiligung von über neunzig Prozent.

Doch dies war auch die Dekade, in der auf allen Gebieten der Arbeits- und der Lebenswelt, der demografischen wie der wirtschaftlichen Entwicklungen jene großflächigen Veränderungen einsetzten, die inzwischen auch die politische Landschaft erreicht und das traditionelle Parteien- und Koalitionsgefüge ins Wanken gebracht haben. Begleitet waren diese Abschiede stets von Klagen und „Krisen“ (der Familie, der Arbeit, der Parteien, der Werte), immer in der Hoffnung, es sei möglich und wünschenswert, den normalen Zustand, die gute alte Zeit wieder herzustellen. Wandel als Krise und Krise als Verfall: in diesen kulturellen Deutungsmustern konnte die große Transformation erst gar nicht als Zeit der Übergänge erscheinen, die man gestalten und denen man dann auch neue Chancen und Freiheiten und Sicherheiten abgewinnen kann. Lauter Abschiede, kein Aufbruch, nirgends.

Warum eigentlich? Ist denn völlig in Vergessenheit geraten, dass kluge Köpfe immer wieder von der Ultra- oder Hyperstabilität des politischen Systems gesprochen haben, auf Kosten gesellschaftlicher Dynamik und demokratischer Lebendigkeit? Rüdiger Altmann, der große konservative Denker, hat einmal von dem Grundgesetz als einem „Misstrauensvotum gegen das Volk“ gesprochen. Unsere Verfassung ist nicht beflügelt vom Vertrauen in die Zivilgesellschaft und kaum geeignet, den demokratischen Aspirationen der Menschen und den Aufgaben der Zukunft gerecht zu werden. Die Verdrossenheit mit der Politikerpolitik und mit dem traditionellen Parteien- und Koalitionsbetrieb hat Ursachen, die nicht nur in den Akteuren zu suchen sind.

Es gibt gute Gründe, die neue Unübersichtlichkeit als Anfang und Chance zu begreifen, die Köpfe, Parteien und sozialen Räume zu durchlüften: die Köpfe für neue Ideen, die Parteien durch einen Abbau der Festungs- und Lagerwälle, die sozialen Räume über Staat und Markt hinaus. Es existieren keine „Lager“ mehr, die man wie Caesar im gallischen Krieg da oder dort aufschlagen und befestigen könnte. Es gibt auch kein bürgerliches Lager mehr. Dass die Grünen verbürgerlichen, ist keine neue Nachricht. Dass viele von ihnen nach wie vor einen anspruchsvolleren Begriff von Politik haben, erschließt sich oft erst auf den zweiten Blick. Dass jedoch das so genannte bürgerliche Lager bis in seinen Kern hinein angegrünt ist, das ist die eigentliche Revolution in Deutschland.

So ist denn der Absturz der Union auch Ausdruck und Folge einer großen Selbsttäuschung: Das „bürgerliche Lager“ hat seine geistige und politische Ausstrahlung längst eingebüßt. Wirtschaftskompetenz ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für den Erfolg. Nicht dass die CDU von den notwendigen Reformen geredet, sondern dass sie von allem anderen geschwiegen hat, war ihr Problem. Das politische Angebot der CDU ist zusammengeschnurrt auf einen blanken Ökonomismus – und die Zahl der Wähler auf 35 Prozent. Einen solchen ökonomischen Determinismus nach dem Motto: „Kommt die Wirtschaft erst in Schwung, dann lösen sich alle Probleme von selbst“ hätte man eigentlich bei einer christlich-demokratischen Union zuallerletzt vermutet. Oft war die Rede von Ludwig Erhard. Ihm wäre es freilich nie eingefallen, das Leitbild einer guten Gesellschaft nur in ökonomischen Kategorien zu definieren. Er wusste: Es gibt keinen Ersatz für Ideen und Perspektiven, die einer Politik Sinn und den Menschen Orientierung geben.

Es braucht, das sollte die Lehre sein, einen umfassenden und anspruchsvollen Begriff von Politik, wenn eine Partei erfolgreich sein will. Wer sich beharrlich über Fragen der sozialen Gerechtigkeit ausschweigt, wird immer wieder eine böse Überraschung erleben. Zwischen altsozial und neoliberal gibt es viele Wege. Die CDU hat es versäumt, ihren wirtschaftlichen Diskurs überzeugend mit sozialen Überlegungen zu verbinden. Nie wollte oder konnte sie verständlich machen, dass Reformen notwendig sind, nicht nur um der wirtschaftlichen Dynamik, sondern auch um der sozialen Gerechtigkeit willen. Die gesamte politische Klasse geht bemerkenswert nonchalant mit der Tatsache um, dass im europäischen Vergleich die Gerechtigkeitsbilanz – Armut, Inklusion aller Schichten in Arbeit und Bildung – in Deutschland schlechter ist als anderswo. „Was heißt soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert?“ ist eine Schlüsselfrage für die gesellschaftliche Entwicklung wie für den Erfolg bei Wahlen. Doch nicht nur rund um die Gerechtigkeitsfrage haben sich ideenfreie Zonen ausgebreitet.

Wirtschaftsliberal, kulturkonservativ, die sozialen und ökologischen Themen im toten Winkel der politischen Aufmerksamkeit: So etwa könnte man die Richtung beschreiben, der sich die CDU seit geraumer Zeit hingegeben hat. Sie ist dadurch nicht attraktiver geworden. Erst fehlen die Ideen, dann die Wähler. Der Schrumpfungsprozess einer jeden einstmals großen Volkspartei beginnt immer im Kopfe, in Selbstverständnis und Mentalitäten, er setzt sich dann fort in Milieus und Ausstrahlung und endet schließlich in den Wahlurnen. Als Partei eines neoliberalen Biedermeier, die wie eine große FDP nach außen die Reformen macht und nach innen ihre Milieus vor den Winden des Wandels bewahren möchte, hat die CDU keine Zukunft; da wäre sie hinfort mit 35 Prozent noch ganz gut bedient.

Dass das „bürgerliche Lager“ bis in seinen Kern hinein angegrünt ist, ist die eigentliche Revolution

Damit ist angedeutet, welche Koalition der Ideen der Zeit wohl angemessen wäre und eine gesellschaftliche Mehrheit findet – lange vor ihrer parlamentarischen Sichtbarkeit. Sie müsste wirtschaftliche Dynamik mit sozialen und ökologischen Rücksichten verbinden, konzeptionell wie politisch, und ein Versprechen formulieren, das in die Zukunft weist.

WARNFRIED DETTLING