Digital Bauhaus Summit Vom langen und lange überfälligen Ende des westlichen Individualismus
: Peak Individualism

Radikal entfalteter Individualismus oder Holm Friebe von der Zentralen Intelligenz Agentur? Foto: Anneke Hymen

von Holm Friebe

What goes up – must come down! Mit diesem ehernen Gravitationsgesetz von fast allem und jedem lassen sich moderne Mythen busten, Apokalyptiker ausbremsen und Heilspropheten auf den Teppich holen. Jedes lineare oder exponentielle Wachstum stößt irgendwann an seine Grenzen. Heute haben wir Peak-Oil, den Förderhöhepunkt fossiler Brennstoffe, längst überschritten. Peak Population wird um das Jahr 2050 bei neun oder zehn Milliarden Menschen liegen, die sich mit ein bisschen Umverteilung und Produktivitätsfortschritt in der Landwirtschaft spielend ernähren lassen. Relax!

Aber gilt das auch für nicht physikalische Wachstumsprozesse? Unter den digitalen Nerds jedenfalls haben einige, die sich selbst „Post-Privacy-Spacken“ nennen, darauf verwiesen, dass auch die Privatsphäre ein historisch angebundenes Konzept ist, das seine Hochphase zusammen mit einem bestimmten Entwicklungsstand der techno-sozialen bürgerlichen Produktivkräfte hatte und seitdem im Sinkflug ist. Und wie sieht es aus mit dem viel größeren, gleichzeitig zentraleren und abstrakteren Konzept der westlichen Moderne: der Individualität? Gibt es Anzeichen für einen Zenit dieses alles überragenden Trends des 20. Jahrhunderts? Eine Schubumkehr beim Mainstream der Minderheiten? Auf den Begriff gebracht: Peak Individualism?

Dazu muss man verstehen, was Individualisierung ist. Zunächst erscheint das moderne Individuum als Quintessenz der beiden Basis-Überbau-Phänomene: abendländische Aufklärung und westlicher Kapitalismus. Der Historiker Philipp Sarasin zeigt in seiner Schrift „Reizbare Maschinen“, mit der er Foucault vom Kopf auf die Füße stellt, dass das moderne Ich mit seiner Subjektivität und seinem Begehren ein lupenreines Produkt des Hygienediskurses im späten 18. und 19. Jahrhundert ist. Die erste erklärte Bewegung von „Individualisten“ entstand erst im frühen 20. Jahrhundert, interessanterweise als Zerfallsprodukt der anarchistischen Bewegung. Die Individualisten waren Prä-Hippies mit allem, was dazugehört: Körperkult, freie Liebe, Auflösung der bürgerlichen Kleinfamilie. Mainstream-tauglich wurde das erst, als sie auf den Markt trafen, der ihnen ihr Streben nach dem „Selbst“ und dessen „Verwirklichung“ als warenförmige Ego-Prothesen und vulgo Lifestyle zurück verkaufte. Der Rest ist Geschichte, die Geschichte einer Paradoxie („Sei individuell!“) als ökonomisches Perpetuum Mobile.

Trump-Individualismus

Seinen Film „Hypernormalisation“ beginnt der BBC-Filmemacher Adam Curtis mit der These, dass um 1980 der marktförmige Individualismus noch einmal einen Turbo eingebaut bekam – und dass letztlich Donald Trump und Patti Smith, beides Elementarteilchen dieser Neuauflage einer Stirner’schen Ideologie vom „Einzigen“ und seinem Eigentum seien. Beide hätten die neue gesellschaftliche Normalität akzeptiert, dass Politik als deliberativer Entscheidungsprozess zwischen kollektiven Alternativen ausgehebelt worden sei und es nur noch um das Management von Märkten und Systemen gehe. Während Smith zusammen mit Robert Mapplethorpe im Chelsea-Hotel danach forschte, was dieses neue Normal mit ihnen als ästhetisch feinfühligen Individuen anstellte und wie sie einen passenden individualistisch-künstlerischen Ausdruck finden könnten, baute Trump Häuser für die Superreichen, die längst nicht mehr am Gesellschaftsspiel teilnahmen.

Na, wenn das mal keine Utopie ist?! Die Gesellschaft als HD-Flachbildschirm

Es gibt auch eine abgesoftete, quasi sozialdemokratische Version dazu: Chris Anderson formulierte mit seinem „Long Tail“ die Idee einer dank Internet flaschenhals- und nadelöhr-losen Gesellschaft, in der jeder nach seiner Façon selig werden könne. Über Empfehlungsalgorithmen würden die Menschen aus dem Massenmainstream, der bei Licht besehen eine Zwangsveranstaltung aus Mangel an Bandbreite war, herauseskortiert in die Nischen, wo sie sich wohler fühlen, weil sie ihre naturwüchsige Individualität mit Gleichgesinnten dort in bedeutsamen Beziehungen voll ausleben könnten. Der Soziologe Christoph Kucklick benutzt die Universalmetapher der „Granularen Gesellschaft“: Das Bild der Gesellschaft wird immer granularer, hochauflösender und trennschärfer und wir sind alle bunte Pixel darin. Wenn das mal keine Utopie ist?! Die Gesellschaft als HD-Flachbildschirm. Hurra!

Und heute? Es gibt ihn noch, den guten alten Mainstream. Es gibt die aufgefächerten Nischenmilieus, die aus den überschaubaren Polaritäten Rocker-Hippie-Punk-Popper in einen bunt schillernden Scherbenhaufen der Distinktion zersprungen sind. Und es gibt eine Müdigkeit, eine fast Fin-de-Siècle-haften Ennui angesichts des Ganzen. Hat sich der Patti-Smith-Donald-Trump-Individualismus endgültig zu Tode gesiegt? Erste Anzeichen dafür erreichen uns – direkt aus dem hipsterischen Herzen der Finsternis. 2013 schaffte erstmals seit Langem ein Trendbegriff, weltweit Welle zu machen: „Normcore“ – erfunden von Emily Segal im Dienste der New-Yorker-Hipster-Trendforecasting-Agentur K-Hole – beschreibt das Phänomen, dass sich die hipsterischsten Hipster in Williamsburg und anderswo neuerdings anziehen wie Hardcore-Normalos mit weißen Tennissocken, Moonwashed-Jeans und Fallschirmseide-Trainingsjacken, offensichtlich um dem ermüdenden Spiel von in and out zu entkommen. In Kreuzkölln und Berlin-Mitte brauchte man das niemandem zu erklären, dort laufen die Hipster seit spätestens 2010 so herum. Dafür steht hier neuerdings das Londoner Label „This Is The Uniform“ hoch im Kurs. Daraus spricht ein existenziell und zutiefst empfundener Überdruss am Individualismus. Präziser: am Terror, immer und stets man selbst sein zu müssen, die beste Version des eigenen Selbst präsentieren zu können und morgen eine noch bessere. Überhaupt, auskunfts- und rechenschaftsfähig darüber sein zu müssen, wer man ist und warum.

Der eigentliche Todesstoß für den Individualismus westlich-kapitalistischer-Prägung kommt von woanders. Da der Versuch geglückt ist, 1,3 Milliarden Chinesen nicht über Individualismus, sondern über eine Kombination aus Kollektivismus und Marktwirtschaft aus der Armut in die Mittelschicht zu hieven, weil selbst die neuen asiatischen Superreichen in ihrem Lebensstil eher einen luxuriösen Konformismus als den exzentrischen Individualismus eines Donald Trump anstreben, müssen wir uns fragen, ob der abendländische Individualismus wirklich so alternativlos ist. Zurück also zum Grau! Zurück zur Uniform! Zurück zum Beton! Es kommt bekanntlich darauf an, was man daraus macht. Peak Individiualism is near! Relax!

Die ungekürzte Fassung dieses Textes finden Sie unter: www.taz.de