Das Alte und das Neue

RETRO Unter dem Titel „Kalter Krieg und Film-Frühling“ widmet sich das Cinefest mit Filmen aus den beiden deutschen Staaten, Frankreich und der Tschechoslowakei dem Kino der frühen 60er Jahre

VON ECKHARD HASCHEN

Beim Cinefest, dem Internationalen Festival des deutschen Film-Erbes, ist die Filmgeschichte nichts ein für allemal Festgeschriebenes. So wurde zum Beispiel 2009 und 2010, als jeweils die 40er Jahre auf dem Programm standen, nicht so sehr der Bruch betont, den das Ende des Zweiten Weltkriegs für das Filmschaffen in Europa bedeutete, sondern vielmehr die Kontinuitäten aufgezeigt, die es darin ebenso gab.

Mag der 50. Jahrestag des Oberhausener Manifests auch der Anlass gewesen sein, das Festival und den darin eingebetteten filmhistorischen Kongress dieses Jahr dem Kino der frühen sechziger Jahre zu widmen, so ist auch der Blickwinkel auf die Filmproduktion jener Zeit auch hier wieder ein eher ungewohnter. Gezeigt werden nämlich weder Filme aus der französischen Nouvelle Vague noch die ersten filmischen Gehversuche der Oberhausener oder Alexander Kluges „Abschied von Gestern“, mit dem der Neue Deutsche Film – freilich auch erst vier lange Jahre nachdem Papas Kino 1962 für tot erklärt worden war – seinen Durchbruch erlebte. Zu sehen ist stattdessen mit „Das Haus in der Karpfengasse“ einer der wenigen Versuche der etablierten Altbranche sich der NS-Vergangenheit zu stellen. Der eigentlich auf Komödien spezialisierte Kurt Hoffmann verstand seine Elegie gegen das Vergessen als „Akt der Wiedergutmachung“. Lange nicht zu sehen gewesen – und bis heute nicht auf DVD erschienen – ist „Das Wunder von Malachias“, Bernhard Wickis puzzleartig angelegter Rundumschlag gegen die westdeutsche Wirtschaftswunder-Gesellschaft. Ein von der Industrie geduldeter Einzelgänger wie Wicki war auch der Kabarettist Wolfgang Neuss, der mit „Genosse Münchhausen“ an seinen Erfolgsfilm „Wir Wunderkinder“ anknüpfte.

Gleiches gilt für den Schriftsteller Will Tremper, dem mit „Die endlose Nacht“ ein mit minimalem Budget gedrehter Ensemblefilm über eine auf dem Flughafen Tempelhof festsitzende Gesellschaft im Wartemodus gelang. Seinerzeit kaum beachtet und erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt wurde „Zwei unter Millionen“. Victor Vicas und Wieland Liebske erzählen ihre Ost-West-Liebesgeschichte mit Hardy Krüger und Loni von Friedl in den Hauptrollen nicht nur mit großem Feingefühl, sondern fangen in ihren unprätentiösen Schwarzweißbildern auch die Berliner Lebensverhältnisse im Jahr des Mauerbaus sehr genau ein. Mit ersten Kurzfilmen betraten 1964 die „Jungen Münchner“ um Klaus Lemke und Rudolf Thome die Szene und gingen – indem sie den Hollywood-Verehrern von der Nouvelle Vague nacheiferten – auf sichere Distanz zu den verkniffenen Oberhausenern. Lemke: „Wir waren damals einfach 50 Jahre jünger.“

Spätestens seit der Wiederentdeckung der auf dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 verbotenen DEFA-Filme wie „Spur der Steine“ sind die zum Teil nicht weniger systemkritischen Filme aus den Jahren davor – von Konrad Wolfs Christa Wolf-Verfilmung „Der geteilte Himmel“ abgesehen – ein wenig in Vergessenheit geraten. Kein großer Erfolg war bei seiner Uraufführung 1961 „Der Fall Gleiwitz“, in dem Regisseur Gerhard Klein und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz, der Hitler den Vorwand für den deutschen Überfall auf Polen lieferte, als stilisierte „Dokumentation“ mit künstlerischen Mitteln“ in Szene setzten. Den Nerv des Publikums traf dagegen ein Jahr später „Beschreibung eines Sommers“. Rolf Kirstens auf einer Großbaustelle angesiedelte Liebesgeschichte mit Manfred Krug in der Hauptrolle wirkt zuweilen wie eine Vorstudie zu Frank Beyers drei Jahre später gedrehtem „Spur der Steine.“

Dass der Hauch von Freiheit, der durch die DEFA-Filme jener Jahre wehte, nicht wenig von der tschechischen Neuen Welle inspiriert war, wird beim Cinefest ebenso deutlich wie Henri-Georges Clouzots – von Serge Bromberg 2009 ausgegrabenem und dokumentiertem – Versuch mit „L’enfer“ den längst verlorenen Anschluss an die Godards und Truffauts wiederherzustellen.