300 Euro für jedes Kind

SOZIALES Die Grünen müssen sich entscheiden: Wollen sie die Kindergrundsicherung, die auch der Mittelschicht nützt? Und verspricht man so was konkret im Wahlkampf?

„Vor die Wahl gestellt, entscheide ich mich für Verbesserungen für die Ärmsten“

MARKUS KURTH, SOZIALPOLITIKER

VON ULRIKE WINKELMANN

BERLIN taz | Als „Kandidatin für die bürgerliche Mitte“ gilt die Überraschungssiegerin der Grünen-Urwahl, Katrin Göring-Eckardt. Neben Jürgen Trittin wird die Spitzenkandidatin den Wahlkampf 2013 voraussichtlich mit Sozialpolitik bestreiten. Denn in den Detailfragen der Umverteilung hat sie seit 2005, als die Grünen in die Opposition wechselten, laut Aussage von Fraktionskollegen „dazugelernt“.

Auf dem Parteitag am Wochenende in Hannover werden die Grünen zu entscheiden haben, welche sozialpolitischen Versprechen sie ihrer Bürgerliche-Mitte-Kandidatin in den Mund legen – und welche Göring-Eckardt selbst formulieren darf. Diese Woche zeigt sich das am Beispiel der Kindergrundsicherung.

Göring-Eckardt wie auch Fraktionschefin Renate Künast und andere grüne Führungskräfte aus Bund und Ländern fordern einen neuen grünen Anlauf auf diese einheitliche Kinderpauschale. Die Idee: Sämtliche Familienleistungen vom Kindergeld über die Kinder-Hartz-Sätze und Unterhaltsvorschuss werden zusammengeworfen und durch die Zahl aller Minderjährigen geteilt. Mit etwas zusätzlichem guten Willen, sprich Geld, kommen 300 Euro pro Monat für jedes Kind heraus.

„Wir wollen alle Kinder und auch die Familien, die nur wegen der Kinderkosten auf Hartz IV angewiesen sind, aus den Hartz-Mühlen befreien“, sagt Andrea Asch, nordrhein-westfälische Mitautorin des entsprechenden Papiers.

Doch gibt es dagegen bei den Realo- wie linksgrünen SozialpolitikerInnen erheblichen Widerstand. Das Konzept von Asch und Co „ist nicht ausgegoren, nicht zielführend, und es wird nicht Realität werden“, urteilt etwa Sozialexperte Markus Kurth. Es sei schlicht zu riskant: „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich unbedingt erst einmal für konkrete Verbesserungen zugunsten derjenigen entscheiden, die es am nötigsten haben.“ Bei knappen Ressourcen müsse vor allem sichergestellt werden, dass in Kinderbetreuung investiert werde und die Hartz-Regelsätze deutlich wüchsen – für Teenager über das 300-Euro-Niveau.

Nun haben die Grünen bereits 2009 auf einem Parteitag für die Kindergrundsicherung gestimmt. Wie auch bei Familien- und Wohlfahrtsverbänden und der Linkspartei setzte sich damals der Gedanke durch, dass Familien stärker und unbürokratischer unterstützt werden müssten – auch die der Mittelschicht. Nicht zuletzt würde durch die Kindergrundsicherung auch die strukturelle Bevorzugung der Besserverdiener beendet: Diese profitieren aktuell vom Steuerfreibetrag weit mehr als Normalverdiener vom Kindergeld.

Doch hat sich seither nicht nur die Finanz- und Bankenkrise kostspielig fortentwickelt. Die Grünen – namentlich die linken Grünen hinter Leitwolf Jürgen Trittin, die nie wieder in die Träumerle-Ecke geschoben werden wollen – haben grüne Lieblingsprojekte nach Finanzierbarkeit sortiert. Die Horizonte wurden schmaler: Die Erlöse aus der Abschaffung des steuerlichen Ehegattensplittings würden sich tatsächlich nur einmal ausgeben lassen, und dies auch bloß nach und nach.

Zwölf Milliarden Euro Spielraum für den Bund im Jahr 2014 machte diesen Sommer die Fraktionsarbeitsgruppe für Prioritätensetzung aus. Das reicht nicht für eine Kinderpauschale, die selbst von ihren VerfechterInnen mit fünf Milliarden Euro Extrakosten veranschlagt wird, sagen deshalb die SozialpolitikerInnen, die schon den Parteitagsbeschluss 2009 mit gequältem Stöhnen aufnahmen. Viele von ihnen mussten in der rot-grünen Regierungszeit 1998 bis 2005 lernen, wie anstrengend schon geringste behördliche Umschichtungen zwischen Bund und Ländern sein können. Es sei unrealistisch, so weitreichende Umbauten für die Regierungsübernahme 2013 anzukündigen, sagen sie und bemängeln die Berechnungen. „Wir haben das Konzept für den ganzen Staat durchkalkuliert“, entgegnet Aschs Mitautorin Katja Keul aus der Bundestagsfraktion. „Außerdem formulieren wir hier einen Parteitagsantrag und keine Regierungsvorlage.“

Wenn der Grünen-Vorstand nicht noch eine Kompromissformel aus dem Ärmel zieht, dürfen die Grünen auf ihrem Parteitag eine neue Variante eines alten Streits austragen: darüber, ob grün geschöpfte Haushaltsmittel lieber unbürokratisch, aber auch an Mittelschichtsfamilien verteilt werden. Oder bürokratisch, dafür aber gezielt an die Ärmsten.