der rote faden
: 103 Tage, 148.320 Minuten, oder 8.899.200 Sekunden

nächste wocheRobert Misik Foto: privat

durch die woche mit

Saskia Hödl

Deniz Yücel

Es waren 100 Tage diesen Mittwoch. Am heutigen Samstag sind es also 103 Tage, die unser Freund und Kollege Deniz Yücel in der Türkei gefangen gehalten wird. In Einzelhaft, in einer 16 Quadratmeter großen Zelle im Gefängnis Silivri. In der Welt schreibt er am Mittwoch, dass er einmal die Woche Besuch empfangen darf, nur von nahen Angehörigen, nur durch eine Trennscheibe. Er schreibt, dass morgens die Hintertür seiner Zelle, die zum Hof öffnet, aufgeschlossen wird, und sie abends wieder abgeschlossen wird. Aus dem kleinen, zubetonierten Hof, der von acht Meter hohen Mauern und Stacheldraht umgeben ist, kann er durch einen Maschendrahtzaun nach oben in den Himmel sehen. Es sind schon 103 Tage. Das sind 2.472 Stunden. 148.320 Minuten. Oder auch 8.899.200 Sekunden. Es ist also in etwa die Zeit, die es dauert, bis 9 Millionen zu zählen. Eine Ewigkeit.

Vor einigen Wochen habe ich Deniz eine Postkarte geschrieben. Ich hätte ihm lieber einen Brief geschrieben, aber ich wäre schon fast an der Karte gescheitert. Was schreibt man jemandem, der so lange im Gefängnis sitzt. Halte durch? Jemandem, den man so lange nicht gesehen hat. Du fehlst? Ich habe ihm ­geschrieben, dass wir viel an ihn denken. Dass wir ihn umarmen.

Donald Trump

Donald Trump ist heute seit 127 Tagen US-Präsident. Für ihn verging die Zeit schneller, er war vor allem damit beschäftigt, Chaos zu stiften: bei den anhaltenden Ermittlungen wegen seiner angeblichen Verbindungen nach Russland, den haarsträubenden Personalentscheidungen, seinem Umgang mit Geheimdienstinformationen und natürlich seinem Twitter-Account, der zeitweise nur noch den Eindruck erweckt, als werde er von einem wütenden Schimpansen bedient. Es ist eine so beeindruckende Demonstration von Inkompetenz, die einem immer noch einmal schmerzhaft bewusst wird, wenn im Fernsehen irgendein Schauspieler einen US-Präsidenten mimt und man dann leise bei sich denkt: Selbst der wäre eine bessere Wahl gewesen.

Am Dienstag war Trump in Israel, wo er im Gästebuch der Gedenkstätte Jad Vaschem einen Eintrag hinterließ, der so salopp und beiläufig war („So amazing – will never forget“), dass man selbst auf der Reiseplattform Tripadvisor schon einfühlsamere Einträge gelesen hat. Am Mittwoch war er bei Papst Franziskus im Vatikan, der ihm eine Enzyklika zum ­Klimawandel schenkte und ein Gesicht zog als wäre die verhasste Großtante zu Besuch, die ihn ständig in die Wange kneift. Donald Trump dagegen grinst auf den Pressefotos wie ein Honigkuchenpferd, während seine Frau Melania und seine Tochter Ivanka schwarz beschleiert danebenstehen, als hätte sich ein Teil der Addams Family ins Allerheiligste verirrt.

Sebastian Kurz

In 141 Tagen wird in Österreich – schon wieder – gewählt. Zuerst der Rücktritt des Vizekanzlers und ÖVP-Chefs Reinhold Mitterlehner. Dann folgte eine seltsame Rede von Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), in der er sich für Neuwahlen aussprach und gleichzeitig die derzeitige Regierung kritisierte – was nicht so absurd wäre, wäre er nicht ein Teil davon. Um seinen Anteil an dem Zustand nun möglichst zu verschleiern, will er nach der Parteiübernahme gar nicht erst den freien Platz des Vizekanzlers einnehmen, was dem Koalitionspartner SPÖ und vor allem den Wähler*innen sagen soll: Der Basti will nur Kanzler sein.

Recep Tayyip Erdoğan

Nun wird Kurz dieser Tage außerhalb Österreichs schon als der nächste Emmanuel Macron gehandelt, was einen etwas ratlos zurücklässt, da Macron und Kurz in etwa so viel gemeinsam haben wie ein frisches Croissant und ein Stück Zwieback. Ja, das hat zwar irgendwie was mit­einander zu tun, man kann auch ohne weiteres Parallelen ziehen, aber als gleichwertig sollte man diese beiden nicht betrachten. Bisher wird vor allem darüber geredet, was Kurz will und was er sein könnte: die Frage, die noch weitgehend unbeantwortet ist: Was kann Kurz eigentlich?

Bis zur Bundestagswahl sind es 120 Tage.

Am Donnerstag traf Angela Merkel am Rande des Nato-Gipfels in Brüssel auf den türkischen Präsidenten Erdoğan. Nach dem Treffen teilte ihr Sprecher mit, die beiden hätten „über derzeitige Belastungen der deutsch-türkischen Beziehungen“ gesprochen. Es sei um den von ihr angedrohten Abzug der Bundeswehr aus Incirlik und um die Freilassung von Deniz gegangen. Am Donnerstagabend berichtete die Welt dann, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Deniz’ Fall nun vorrangig behandeln will. Es sind schon 103 Tage.