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Im Zeichen des roten Ahornblatts

Multikultur Kanada feiert in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag. Die Vielfalt des Landes zeichnet seine Musikszene aus. Die Stimmen der Ureinwohner werden erst jetzt gehört

Abstecher ins Kornfeld: Die Songwriterin Geneviève Toupin spürt in ihrer Musik dem Erbe ihrer indianischen Vorfahren nach Foto: Archiv

von Stefan Franzen

Zum „Canada Day“, dem Natio­nalfeiertag, lädt man tradi­tio­nell auch Musiker ein. Dort machte Vivienne Roy ihren Premier Justin Trudeau auf einen angeblichen Fleck auf dem Hemd aufmerksam. Als Trudeau nach unten schaute, schnippte sie ihm vor den Kameras der Welt frech gegen die Nase.

„Wir dachten, die Heckenschützen schießen ihr die Finger ab“, erinnert sich Bandkollegin Katrine Noël von den Hay Babies voll Schrecken. Doch passiert ist nichts, der Scherz blieb zum Glück folgenlos.

Fraglich, ob man auch Donald Trump ebenso ungestraft einen Streich spielen könnte. Doch Kanada und sein Premier gelten derzeit als liberaler, cooler Gegenentwurf zu den USA. Trudeau gab für sein Land die Losung „Diversität ist unsere Stärke“ aus, und viele Musiker sehen das ähnlich.

„Gerade die dünn besiedelte Ostküste wurde ja erst durch die Einwanderung und Vielfalt der Leute lebendig“, sagt Julie Aubé von den Hay Babies. Sie spielen eine Art retrofuturistischen Countryrock, der sich auch aus der Folklore der französischstämmigen Akadier speist, und ihre Texte nutzen die verrückte Mischsprache Chiac. Julie Aubé selbst stammt aus der Atlantikprovinz New Brunswick. Sie sagt: „Wenn jemand aus einem anderen Land kommt und bei uns ein Geschäft aufmacht, dann ist das einfach nur aufregend. Was da vor unserer Haustür in den USA passiert, beschämt und erschreckt uns.“

Wenn man am 1. Juli zwischen Halifax und Vancouver den nächsten Nationalfeiertag begeht, wird es der 150. nach dem Zusammenschluss der britischen Kolonien zu den ersten Provinzen eines neuen Bundesstaats sein. Auf den Werbeplakaten zum Jubiläum, die schon überall zu sehen sind, schillert das sonst rote Ahornblatt in allen Farben. Kanada – ein Regenbogenland des Nordens?

Wer sich auf der Reise unter Musikern umhört, nimmt vor allem eines wahr: Zum runden Geburtstag stellen sie viele Fragen nach der Identität – mal auf globaler, mal auf ganz persönlicher Ebene. Wie etwa Matt Holubowski in Montreal. Der belesene 28-Jährige mit Sturm-und-Drang-Frisur ist der Sohn eines polnischen Einwanderers und einer Québecerin. „Der Ausgangspunkt für mein neues Album war Hugh MacLennans berühmter Roman ‚Two Soli­tudes‘, eine „Romeo und Julia“-Geschichte aus den 1920ern, in der sich die damalige Unvereinbarkeit von franko- und anglofoner Gesellschaft spiegelt“, erläutert er vor seiner Show beim Festival Montréal en lumière.

Auch heute stößt man zwischen den beiden Sprachgruppen in der Stadt noch immer auf Barrieren. „Was den Session-Alltag der Musiker angeht, gibt es viel mehr Bemühungen um Zusammenarbeit als um Trennung“, so Holubowski. „Doch auf dem Markt ist sie noch da: Englischsprachige Künstler sind in Québec in der Minderheit, frankofone bekommen leichter Unterstützung von der Regierung, und die meisten Presseorgane sind auch auf Französisch.“

Dualität statt Diversität? Die strenge Segregation, die Montreal bis in die 1960er prägte, scheint sowohl wirtschaftlich als auch psychologisch nicht überwunden. Doch das ist nicht alles. Die Songwriterin Geneviève Toupin etwa kam aus der französischsprachigen Diaspora Manitobas nach Montreal. Zudem zählte ihr Vater zu den „First Nations“, weshalb sie selbst der Definition nach eine „Métisse“ ist.

„Als ich klein war, hat mein Vater mich zu den Powwows mitgenommen. Der Gesang und die Tänze, der Klang der heiligen Trommeln, das hat mich damals vielleicht unbewusst geprägt. Und heute setze ich diese Elemente ganz gezielt ein“, erzählt die Musikerin in der ange­sagten Montrealer Musikkneipe Le Verre Bouteille. Mit Blick auf die Feiern zum 150. Geburtstag wird sie nachdenklich: „Das ist sehr delikat für mich. Die Geschichte Kanadas begann ja nicht erst 1867, sie ist viel älter. Und es gibt so viele Sachen, die zu reparieren sind. Wir sind auf einem Weg der Heilung, aber Anlass zum Feiern gibt mir das nicht.“

„First Nations“ und Inuit waren lange die Verlierer. Sie haben wenig zu feiern

Mit dem „Weg der Heilung“ meint Toupin unter anderem die Truth & Reconciliation Commission, die 2008 eingesetzt wurde, um Verbrechen und Missbrauch an den Ureinwohnern aufzuklären. Die Wunden sind noch lange nicht geschlossen, und wer mit Musikern der First Nations oder Inuit darüber sprechen möchte, kann auf ­Einsilbigkeit stoßen.

Zu einem Gespräch bereit finden sich Cynthia Pitsiulak und Annie Aningmiuq. Die jungen Inuitfrauen haben ihre Heimatdörfer in der seit 1999 autonomen Provinz Nunavut verlassen und leben heute in der Hauptstadt Ottawa. Auf ihren Konzerten präsentieren sie den typischen Kehlkopfgesang, den Katajaq, und informieren über die Situation ihres Volkes. „Ich arbeite zwar auch mit Techno-Künstlern und DJs, aber es ist mir wichtig, dass wir genauso wie unsere Sprache Inuktitut auch die traditionelle Singweise bewahren“, sagt Pitsiulak.

Das Duo ist nicht nur musikalisch engagiert: Pitsiulak arbeitet für die Fernsehanstalt der Inuit, Aningmiuq ist im Büro des einzigen Nunavut-Abgeordneten tätig, der im House of Commons sitzt. Sie glaubt, dass es noch lange Zeit dauern wird, die Folgen von Zwangsumsiedlungen, Alkoholismus und des Missbrauchs der Kinder in den Residential Schools zu bekämpfen. „Die Inuit müssen erst einmal wieder Selbstachtung entwickeln. Man muss ihnen den Zugang zu Hochschulen ermöglichen, das Gesundheitssystem und psychologische Betreuung muss die Dörfer erreichen. Dort gibt es zudem kaum Arbeit, und die Lebensmittelpreise sind astronomisch hoch“, analysiert Animgmiuq.

Während die Nachkommen derer, die schon immer im hohen Norden Amerikas lebten, lange die Verlierer waren, hat das Land bei der Integration derer, die seit der Kolonisierung kamen und noch immer kommen, gelassene Toleranz gezeigt. Mit Flüchtlingszahlen wie Deutschland war man in Kanada zwar nie konfrontiert – und manche fürchten, die Stimmung könnte eines Tages kippen angesichts der vielen Verschreckten, die derzeit die Grenze zu den USA queren.

Konservativere Tageszeitungen fordern bereits einen rigideren Kurs, und die Regierung hat den Familiennachzug von Syrern und Irakern stillschweigend ausgesetzt. Doch noch wird man schwerlich irgendwo anders eine so entspannte Einstellung zu Immi­gran­ten finden. Denn als traditionelles ­Einwanderungsland besitzt Kanada seit jeher eine multiple Identität.

Biografisch und musikalisch ist Alysha Brilla eine Art Musterbeispiel für die kanadische Vielfalt. Sie wuchs in Kitchener-Waterloo auf, das einst von deutschen Einwanderern geprägt wurde und bis heute mit einem eigenen Oktoberfest gesegnet ist. Sie ist Tochter einer kanadischen Christin und eines muslimischen Indotansa­niers. Ihre Jugend war ein buntes Miteinander von Kirche und Jamatkhana-Tempel, von Joni Mitchell und ostafrikanischen Liedern, und ihre Musik spiegelt all diese Einflüsse: indische Farben, Reggae, folkiges Fingerpicking.

„Als ich jung war, habe ich die kanadische Multikultur als selbstverständlich hingenommen. Erst als ich anfing zu reisen, merkte ich, dass es Orte gibt, wo das ganz anders aussieht“, erzählt Alysha Brilla in einem kleinen vegetarischen Restaurant ihrer Heimatstadt. Um eine Verbindung zu den Wurzeln ihres Vaters zu schaffen, besuchte sie Tansania, später studierte sie Yoga in Indien.

Die Welt im Blick: der Geiger Jaron Freeman-Fox Foto: Nick Merzetti

Im Umfeld ihrer Konzerte gibt sie auch Workshops an Schulen: „Ich spreche mit den Jugendlichen darüber, dass ­gesellschaftliche Unterschiede besser im Bildungssystem re­spek­tiert werden müssen. Dazu zählt natürlich auch, dass die Stimmen der Ureinwohner gehört werden müssen. Ich wünschte, in die Versöhnungsarbeit würde genauso viel Geld gesteckt wie in diesen 150. Geburtstag.“

Alysha Brilla steht als Aktivistin für ein junges, global denkendes Kanada, der Geiger Jaron Freeman-Fox macht dies durch seine weltumspannende Musik. Als Jugendlicher hat er seine Sommer bei der Haida-Nation auf den Queen-Charlotte-Inseln verbracht, jetzt wirkt er als stilistischer Tausendsassa in Toronto. Ursprünglich stammt er aus British Columbia. „Das ist ein sehr junger Teil Kanadas, es gibt keine musikalischen Traditionen. Als Teenager habe ich das beklagt. Heute erkenne ich den Vorteil: Je größer die Abwesenheit von Geschichte, desto dringlicher die Notwendigkeit, kreativ zu werden.“

Durch Reisen nach Skandinavien, Indien, Westafrika und in die Mongolei hat Freeman-Fox zu einem universellen Spiel gefunden, in dem sich Fiddle­Stile aus Kanada genauso finden wie schwedische oder südindische Färbungen. Diese globale Perspektive hat auch auf seine politischen Ansichten abgefärbt: „Früher haben wir uns bei schwierigen Fragen auf der ganzen Welt nach Modelllösungen umgeschaut. Aber es gibt gerade eine subtile Bewusstseinsveränderung, dass wir damit aufhören müssen“, sagt er.

„Kanadier haben oft diesen starken Minderwertigkeitskomplex, sind stets höflich und bescheiden“, meint Freeman-Fox. „Doch vielleicht ist es an der Zeit, zu akzeptieren, dass wir selbst in bestimmten Fragen eine Führungsrolle übernehmen müssen. Etwa in der Frage, wie eine Versöhnung mit Ureinwohnern möglich wird oder wie man sich im Klimaschutz engagieren kann. Dafür sollten wir unser Bestmögliches tun.“