Balkan

Seit die EU keine Alternative mehr ist, wecken die politisch insta­bilen Länder auf dem Balkan Begehrlichkeiten anderer Großmächte

Putsch von Russlands Gnaden? Nach Regierungschef Gruevskis Abwahl stürmten slawomazedonische Nationalisten das Parlament in Skopje. Mindestens acht Abgeordnete wurden dabei verletzt Foto: Boris Grdanoski/dpa

Europas weiche Flanke

Zankapfel Auf dem Westbalkan sind die verschiedenen Ethnien noch immer zerstritten. Den Interessen Russlands, der Türkei und der Arabischen Emirate kommen die tiefen Gräben und der Vormarsch autoritärer Regierungen gelegen. Und was tut die EU?

Aus Split Erich Rathfelder

„Wenn die Europäische Union kollabiert, wird es einen neuen Krieg auf dem Balkan geben“, warnte kürzlich EU-Kommis­sions­präsident Jean-Claude Juncker. Federica Mogherini, Außenbeauftragte der EU, äußerte sich ähnlich. Und bei seinem Kosovobesuch vor gut einem Monat erneuerte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel das Versprechen der EU, alle Staaten des westlichen Balkans – das sind die Nachfolgestaaten Jugoslawiens und Albanien – könnten mit ihrer Aufnahme in die EU rechnen, wenn sie an der Politik demokratischer Reformen festhalten würden.

Doch dieses 2003 in Thessaloniki feierlich gegebene Versprechen zieht nicht mehr. Denn nach dem tendenziellen Rückzug der USA aus der Region und der Krise der EU hat die Gemeinschaft an Integrationskraft eingebüßt. Die mit dem Brexit zutage getretene tiefgreifende Krise hat die Attraktivität der EU nicht nur bei den Eliten, sondern auch in den Augen der Bevölkerungen des Balkans untergraben. Selbst in Serbien, das mitten in einem Verhandlungsprozess mit der EU steckt, schwindet deren Anziehungskraft. „Wir wollen Russland, nicht die EU“, riefen Abgeordnete des serbischen Parlaments Ende März, als Federica Mogherini gerade über einige Fortschritte in den Verhandlungen sprechen wollte.

Die Schwäche der EU hat ein politisches Vakuum geschaffen. Vor allem Russland und die Türkei bemühen sich darum, diese Lage für sich auszunutzen.

Nach dem Kurswechsel in seiner Europapolitik 2007 sucht Wladimir Putin verstärkt nach Verbündeten auf dem Balkan. Wichtigstes Pfund für Moskau sind die orthodoxen Bevölkerungen, die traditionell große Sympathien für Russland empfinden. So in Serbien, Bulgarien, Mazedonien, Montenegro, aber auch in Griechenland.

Ökonomisch versucht Russland Abhängigkeiten zu schaffen. Die meisten Länder des Balkans sind nicht nur auf russische Gaslieferungen angewiesen; in Serbien und Bosnien befindet sich zudem die Ölin­dus­trie in russischer Hand. Gazprom hat flächendeckende Tankstellennetze in der gesamten Region aufgebaut. Russische Banken kaufen lokale Banken und Betriebe auf. Der in die Krise geratene größte kroatische Betrieb, der Lebensmittelhersteller Agro­kor, zum Beispiel, der 15 Prozent des Inlandsprodukts erwirtschaftet, ist in Händen russischer Investoren.

Ungenierte Einmischung

Putin will den russischen Einfluss ausbauen. Dazu gehört, eine weitere Integration der Region in die Nato zu verhindern. Das ist vor allem in Montenegro sichtbar. Denn Moskau möchte – wie schon der Zar vor 1914 – die montenegrinischen Mittelmeerhäfen für die eigene Flotte nutzen. Ungeniert mischt sich Putin in die Innenpolitik des kleinen Landes ein. Russland finanziert seit Jahren über Mittelsmänner die Bewegung gegen den Nato-Beitritt. Das jedenfalls behauptet die Regierung in Podgorica. Als die pro Nato eingestellte Regierung eine Volksabstimmung gewann, kam es zu einem Putschversuch im Oktober 2016, in den Russland – trotz aller Dementis – nach Meinung westlicher Diplomaten involviert war.

Anderen Ländern bietet Putin Militärhilfe an – so sollen jetzt 29 MiGs und 30 T-72-Panzer an Serbien geliefert werden. Russische Militärs verfügen über einen Stützpunkt in Südserbien an der Grenze zum Kosovo, Militär- und Polizeiberater sind in der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina aktiv. Der Teilstaat kann auf die russische Unterstützung im UN-Sicherheitsrat rechnen. Eine Volksabstimmung über die Loslösung der serbischen Teilrepublik – was Krieg in diesem Land bedeuten könnte – ist durchaus möglich. Kurzum: Putin kann auf dem Balkan zündeln, wenn und wann er will.

Auch die Türkei ist in der Region in den letzten Jahren politisch aktiver geworden. Präsident Erdoğan hat den muslimischen Bevölkerungen in Bosnien und Herzegowina, in der serbischen und montenegrinischen Sandžakregion, in Kosovo, Mazedonien und Albanien seine Unterstützung zugesichert, in Bosnien auch militärisch. Seine Vision von einer Erneuerung des Osmanischen Reichs ist eine Offensive, der es bisher zwar an größerer Wirtschaftskraft fehlt; doch die religiös-autoritäre Ausrichtung der türkischen Politik ist für viele religiös gestrickte politische Organisationen der Muslime in der Region attraktiv. In den Augen der Türken sind die muslimischen Siedlungsgebiete auf dem Balkan „unser Land“.

Konkurrenz in Bezug auf die autochthonen muslimischen Bevölkerungen haben die Türken allerdings durch die Aktivitäten der Golfstaaten und Saudi-Arabiens erhalten. Die Emirate investieren in riesige Tourismusprojekte im Kanton Sarajevo, arabische Privatleute kaufen landwirtschaftlich genutztes Land sogar in Serbien und Kroatien. Bedeutsam ist, dass diese Vertreter der Arabischen Emirate ihre fundamentalistische Spielart des Islam vor allem in Bosnien zu verankern und den toleranten und offenen bosnischen Islam, der politisch für ein Zusammenleben aller Religionen und Volksgruppen steht, zurückzudrängen suchen.

Sowohl die Türkei als auch die Länder der Arabischen Emirate nehmen mit ihrem Geld Einfluss auf die muslimisch dominierten politischen Parteien. Türkische Institute versuchen im Kultursektor Fuß zu fassen, und Diplomaten drängen die Bosniaken in Bosnien dazu, Türkisch als erste Fremdsprache in den Grundschulen einzuführen. Die Türkei und die Golfstaaten versuchen so, die Abgrenzung der Muslime von den anderen Volksgruppen zu fördern. Die autoritär-religiösen Positionen gewinnen gesellschaftlich an Bedeutung – selbst in intellektuellen Kreisen.

Während die islamischen Mächte die muslimischen Eliten des Balkans auf ihre Seite ziehen wollen, wird die Position Europas zusätzlich durch die Rechtsentwicklung in vielen Staaten geschwächt. Mehr und mehr setzen sich aggressive autoritäre Regime durch. In Serbien ist es Regierungschef Aleksandar Vučić gelungen, die von der Demokratischen Partei angeführte Opposition zu zertrümmern, die Presse gleichzuschalten und die Zivilgesellschaft mit Zuckerbrot und Peitsche auszuhebeln.

Albanische Abspaltung

Sogar unter Intellek­tuellen gewinnen autoritär-religiöse Positionen an Gewicht

In Mazedonien gelang es der sozialdemokratischen Opposition mithilfe der EU immerhin, den bis 2016 regierenden Regierungschef Nikola Gruevski von der Macht zu drängen. Da sie jedoch bislang keine Regierung bilden konnte, besteht die Verfassungskrise aber weiter und droht in einen gefährlichen Kampf der Nationalitäten mit der albanischen Minderheit zu führen. Denn angesichts der Schwäche der EU sprach der albanische Regierungschef Edi Rama schon davon, dass sich Albanien, das Kosovo und die albanischen Siedlungsgebiete in Mazedonien zu einem Staat vereinen sollten. Was Serbien und die slawischen Mazedonier nicht hinnehmen würden.

Autoritäre Regime führen in Montenegro und in der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina. Nationalistische Positionen gewinnen dort bei der bosniakischen und der kroatischen Volksgruppe wieder an Bedeutung. Selbst in dem zur EU gehörenden Kroatien ist ein Rechtsruck und ein Wiederaufleben der rechtsradikalen Ustascha zu beobachten.

Das restliche Europa und die EU handeln noch immer nicht entschlossen. Es gibt kaum Versuche, die demokratischen Kräfte auf dem Balkan zu stärken. Die Problem zu erkennen ist das eine, eine Strategie für den Westbalkan von europäischer und deutscher Seite zu entwickeln, das andere. Das europäische Versprechen von Demokratisierung und Wohlstand für alle zieht nicht mehr, über die Erneuerung der europäischen Politik wird nicht nachgedacht.

Die bisherige Politik, die gegenwärtige Situation schönzureden, wie es viele europäische und deutsche Diplomaten immer noch tun tun, ist gefährlich. Der nach dem Krieg 1995 erste Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, der Schwede Carl Bildt, warnte kürzlich vor einem Krieg in Mazedonien und forderte unverzügliche Maßnahmen.

Nachfolger Bildts, wie der Österreicher Wolfgang Petritsch und der Deutsche Christian Schwarz-Schilling, weisen seit Jahren auf die zu weiche Politik der EU hin und fordern, endlich konsequent gegen die korrupten ethnonationalistischen Regime vorzugehen. Schwarz-Schilling sieht in der Krise der EU und dem französischen Wahlergebnis auch eine Chance, die Außen- und Sicherheitspolitik der Gemeinschaft neu zu gestalten. „Jetzt muss eine Neuformulierung der europäischen Politik auf dem Balkan erfolgen“, erklärte er der taz.