Geht’s noch?
: Eurovision Song Contest

In schwulen Haushalten säuft man sich den Wettbewerb schön und wichtig. Aber mal ehrlich: Hat der ESC jemals etwas bewirkt?

Würden erwachsene schwule Männer in Deutschland halb so viel Energie, Geld und Zeit in den Kampf um ihre Menschenrechte investieren wie in die Vorbereitung, Beobachtung und Nachbereitung des Eurovision Song Contest, gäbe es zwischen Hamburg und München längst die Ehe für alle und es ginge vielen von uns in Europa besser. Das wissen auch diejenigen, die diese Woche wieder ständig behaupteten, der Song Contest sei eine wichtige queerpolitische Errungenschaft und würde den Schwulen, Lesben und Trans* in Gesamteuropa ausgesprochen guttun.

Gelungene Politik muss sich aber an ihren Ergebnissen messen lassen. Weswegen folgende Fakten und eine Frage mal ganz unmusikalisch in den Raum gestellt seien: 2004 fand der ESC schon einmal in der Ukraine statt, im Jahr davor in der Türkei, 2008 in Russland und 2011 in Aserbaidschan. Was genau hat sich an der (fürchterlichen) gesellschaftlichen Situation für Schwule, Lesben und Trans* in diesen Ländern seitdem verbessert?

Jaja, mediale Aufmerksamkeit. Europa hat, nachdem es „unser Lied“ wieder mal nicht verstanden hatte, hingeguckt und ist sich der Probleme bewusst geworden, richtig? Um dann schnell wieder wegzugucken, wenn ESC-Siegernationen damit weitermachten, Homopropagandagesetze einzuführen, Trans* zu pathologisieren und Lesben nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wie konnte es dazu kommen?

Schließlich ist der ESC doch, so schreibt ein schwuler Kollege im Freitag, „der einzige lebendige kulturelle Ausdruck für das Projekt Europa“ und viele Länder Osteuropas hätten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs „ihren Auftritt auf der Bühne quasi als Bewerbung für eine EU-Mitgliedschaft“ genutzt. Europa klingt also wie die verschwitzt-müde vor sich hin furzende Achselhöhle der Popgeschichte, und Erdoğan bräuchte – Todesstrafe hin oder her – nur die richtige Mischung aus trommelnder, kurdischer Oma und Strickkleid und wäre drin?

Andre Wilkens gibt es auf Spiegel Online wenigstens zu: „Ich brauchte ein paar Bier, bis ich den Punk hinter der Sache zu verstehen begann.“ Sich den ESC schön- und wichtigsaufen ist etwas, was am Samstag in deutschen schwulen Haushalten wieder praktiziert werden wird. Wer Eurovisionen hat, könnte auch einfach zum Arzt ­gehen. Paul Schulz