„So eine Haltung nimmt man in Berlin übel und verdreht die Augen“

Das bleibt von der Woche Die Initiative Volksentscheid Fahrrad nimmt noch mal Fahrt auf, der zukünftige Volksbühnenintendant stimmt auf sein Programm ein, Innensenator Geisel will den Kirchentag nicht mit Polizei ersticken und die Zahl homophober Übergriffe in der Stadt geht nicht zurück

Ein Tritt in die Pedale

Entwurf des Radgesetzes

Der Entwurf muss überarbeitet werden – aber wie? Und wie lange?

In der Politik konkret zu werden, kann sich als schwierig erweisen. „Die Grünen-Fraktion hält am Zeitplan fest: Im März wird das Gesetz verabschiedet!“ Das sagte die grüne Fraktionschefin Antje Kapek vergangenen Januar im taz-Interview – und meinte das Radgesetz. Eine klare Ansage, die sich bekanntermaßen nicht erfüllt hat. Immerhin liegt nun ein Gesetzentwurf vor, den die Initiative Volksentscheid Fahrrad am Donnerstag ins Netz gestellt hat.

Nicht ohne Hintergedanken: Man brauche juristische Hilfe, um den Entwurf rechtssicher zu machen, so die Initiative. Der Entwurf muss nachgebessert werden – aber wie umfassend? Die Initiative drückt auf’s Tempo: Sie möchte das Gesetz wie zuletzt geplant im Oktober tatsächlich verabschieden. Dafür müsste der Entwurf in den nächsten Wochen ins Parlament eingebracht werden.

Die parteilose, von den Grünen nominierte Verkehrssenatorin Regine Günther hat offenbar weniger Eile. Sie spricht von einem „ersten Entwurf“, der eine weitere „juristische Ausformulierung“ brauche. Konkreter, etwa was einen neuen Zeitplan angeht, wurde sie nicht.

Günther war nicht glücklich über das Vorpreschen der Initiative. Die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ sei durch die nicht abgesprochene Veröffentlichung beschädigt. Doch ist das die ganze Wahrheit? Müssen sich außerparlamentarische Initiativen an Umgangsformen der parlamentarischen Demokratie halten? Sind sie nicht vielmehr ein wirksames Korrektiv?

Nachdem die Initiative die Radsicherheit im vergangenen Sommer auf die politische Agenda gesetzt hatten, waren ihr Grüne, Linke und selbst die SPD dankbar dafür. Der Druck von der Straße, so die Argumentation, sei nötig, um gegen die Autolobby angehen zu können. Entsprechend hohe Priorität hatte das Thema in den Koalitionsverhandlungen.

Nun ist wieder Wahlkampf, es geht um den Bundestag, und da lohnt es sich, auch den Senat an seine Ziele zu erinnern. Etwa die beiden SPD-Alphatiere Michael Müller und Raed Saleh. „Wir machen keine Anti-Auto-Politik“, schrieben sie Anfang Mai im Tagesspiegel. Was übersetzt nichts anderes heißt als: Die Radler sollen mal nicht zu viel fordern, schon gar nicht im Wahlkampf. Bert Schulz

Hoffentlich die falsche Angst

Neue Volksbühne

Trotzdem ist mir bange, ob das gut geht mit Dercon und der Volksbühne

Eine Programmvorschau und der Wind dreht sich? Nein, so leicht ist das nicht.

Am vergangenen Dienstag haben der zukünftige Volksbühnenintendant Chris Dercon und sein Leitungsteam im Flughafen Tempelhof erzählt, mit welchen Choreografen, Regisseuren und Performern sie in die nächste Spielzeit starten werden. Auf viele der Künstler, wie Boris Charmatz, Susanne Kennedy, Mette Ingvartsen, Romuald Karmakar, Tino Sehgal kann ich mich freuen, ihr Blick auf das Theater, ihre freundlichen Einladungen an das Publikum interessieren mich schon seit Längerem.

Trotzdem ist mir auch bange, ob das gut geht mit Dercon und der Volksbühne. Nicht so sehr, weil sie mit etwas „Neuem“ beginnen, und von dem bisherigen Theater dort nichts mehr stattfinden wird und weil auch keiner der da lange beheimateten Regisseure, René Pollesch, Herbert Fritsch, Christoph Marthaler und Frank Castorf, mit dem Team von Dercon zusammenarbeiten will. Sondern mehr aus einem Missbehagen gegenüber den großen Vokabeln, in die Chris Dercon und seine Programmdirektorin Marietta Piekenbrock ihre Pläne einkleiden. Das klingt oft so missionarisch, so als müsse das Berliner Publikum erst an ein Abc des Theaters herangeführt werden, als ob die Übung der Reduktion der künstlerischen Mittel in Berlin noch nicht stattgefunden hätte und als ob Castorf und Co mit einer Art theatralen Völlerei die Empfangskanäle verstopft hätten. So eine Haltung nimmt man in Berlin übel und verdreht die Augen. Gerade die, die mit Matthias Lilienthals (ehemals Dramaturg der Volksbühne, später am HAU, heute Intendant in München) Wettern gegen die „Kunstkacke“ theatersozialisiert sind. Dabei ist der Clou an der Sache, dass Dercon und Lilienthal oft die gleichen Künstler schätzen, ihre reduzierten Formen, die auch ein Tieferhängen der großen Behauptungen von Kunst meinen. Nur verkauft sie der eine viel schaumiger als der andere.

Dennoch hoffe ich auf eine Überraschung. Dass ich falsch liege. Dass das Liebeswerben um das Berliner Publikum, das in Boris Charmatz’ Eröffnung auf dem Tempelhofer Feld mit einer Choreografie für die unterschiedlichsten Gruppen liegt, aufgehen möge.

Katrin Bettina Müller

Hilfsprojekte brauchen Hilfe

Homophobe Gewalt

Ob nun mehr Taten insgesamt oder mehr erfasste Taten: Es sind zu viele

Mehr homofeindliche Übergriffe in Berlin“, schrieb vergangene Woche der Tagesspiegel, „Neuer Rekord in Homophobie“ das Neue Deutschland. Anlass für diese Zahlen war die jährliche Bilanz des Berliner schwulen Antigewaltprojekts Maneo, veröffentlicht am Dienstag, einen Tag vor dem Internationalen Tag gegen Homophobie. Danach gab es 291 homo- oder trans*phobe Übergriffe im Jahr 2016 – eine erschreckend hohe Zahl. Doch mit ihren Überschriften zeigen die genannten Medien, dass sie den Bericht nicht genau gelesen haben.

Eine „traurige Bilanz“ – so fasst Maneo den Anstieg der Fallzahlen zusammen. Aber auf einen „objektiven Anstieg vorurteilsmotivierter Gewalttaten“ gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle oder Trans*personen (LSBT*) könne deswegen nicht geschlossen werden. Denn die Zunahme sei vor allem auf mehr von der Polizei an Maneo übermittelte Fälle zurückzuführen. „Vertretbar wäre ebenso die Meinung, dass es uns 2016 gelungen ist, mehr Fälle aus dem als sehr hoch einzuschätzenden Dunkelfeld heraus zu holen“, heißt es dazu im Report.

Dass von homo- und trans*phober Gewalt betroffene Menschen sich häufiger als früher an die Polizei wenden und diese die Fälle tatsächlich ernst nimmt: Das wäre eine positive Entwicklung. Grund für überschwängliche Euphorie gibt es aber nicht. Dafür ist die Zahl viel zu hoch.

291 Fälle: Das bedeutet eine Tat im Schnitt alle 1,25 Tage. Und dies ist nur die Zahl, die Maneo mit seinen nicht einmal zwei Vollzeitstellen registrieren und auswerten konnte. Gemeldet wurden dem Projekt insgesamt 659 Fälle. Dazu kommen die Übergriffe, die niemals bekannt werden, weil die Betroffenen sich an niemanden wenden.

Homo- und trans*phobe Gewalt ist trauriger Alltag in Berlin. Die Zahlen sprechen für sich. Und ganz unabhängig davon, ob der Anstieg auf mehr Taten oder mehr erfasste Taten zurückgeht: Es sind zu viele. Präventions- und Opferhilfsprojekte wie Maneo oder ihr lesbisches Partnerprojekt L-Support arbeiten am Rande der Belastbarkeit. Sie mit zusätzlichen Mitteln zu entlasten, ist eine dringliche Aufgabe der zuständigen Senatsverwaltung. Dinah Riese

Der Preis der inneren Sicherheit

Polizei beim Kirchentag

Zu viel Polizei kann bei solchen Veranstaltungen die Stimmung stark dämpfen

Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat am Donnerstag im Abgeordnetenhaus viele Sätze gesagt, aber zwei ganz besondere. Nachdem er darüber informiert hatte, dass 6.000 Polizisten den Kirchentag vom 24. bis zum 28. Mai in Berlin schützen sollen, schickte er hinterher: „Wir müssen aufpassen, dass wir den Kirchentag nicht mit Sicherheitsmaßnahmen ersticken.“

So richtig das war, so sehr schien es mit dem zweiten Satz zu kollidieren, den er eine Stunde zuvor in einer Debatte über den Fall Amri, Polizeimanipulationen und Terrorismus sagte: „Unsere Freiheit ist ohne Sicherheit nicht denkbar.“

Was will er denn nun, der Herr Senator? Es scheint doch klar: Will man den Kirchentag schützen, muss man da Polizisten hinstellen. Und wenn die wirklich schützen sollen, müssen sie auch sichtbar eine Waffe tragen. Und die muss manchmal auch eine Maschinenpistole sein, egal, ob das den einen oder anderen Kirchentagsteilnehmer schockt oder nicht. Wasch mir den Pelz, aber mach’ mich nicht nass – das gibt es halt nicht. Könnte man durchaus meinen.

Es spricht für Geisel, dass er es sich nicht so leicht macht. Dass er zumindest im Kopf hat, dass Sicherheitsmaßnahmen ihren Preis haben, und zwar nicht nur den gemessen in Euro, der in die Millionen geht. Großveranstaltungen abzusichern – vor allem solche, die von Offenheit und Friedfertigkeit leben wie der Kirchentag – ist eine Gratwanderung. Zu viel Polizei kann da die Stimmung ganz schön dämpfen. Zu wenig Polizei und dann ein Zwischenfall, der hier gar nicht ausgemalt werden soll, und sofort wäre die Kritik da, der Innensenator habe „in unverantwortlicher Weise“ und so weiter und so weiter …

Es bleibt nur der stets suboptimale Mittelweg. In diesem Fall beruht der auf der Lagebeurteilung der Polizei, einer abstrakten Gefährdungsseinschätzung – und auf dem Prinzip Hoffnung. Der Hoffnung nämlich, dass all diese Einschätzungen richtig sind; der Hoffnung, dass all das schon reichen wird, sei es zur Abschreckung, sei es zur konkreten Abwehr eines Angriffs.

Kirchentagsmäßig biblisch lässt sich diese Hoffnung auf einen Satz verkürzen: Lass diesen Krug an Berlin vorüber gehen. Stefan Alberti