„Auch auf Beerdigungen muss man den Humor behalten“

DIE TRAUERREDNERIN Sie liebt lebendige Farben: Rot, Grün, Blau. Bei der Arbeit trägt Katrin Schell aber Schwarz. Mehrmals in der Woche steht sie an Gräbern und spricht über Menschen, die sie nie kennen gelernt hat

■ Die Schauspielerin: Katrin Schell, 50, hat an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin studiert und an verschiedenen deutschen Theatern gearbeitet, unter anderem in Potsdam, Nürnberg und Senftenberg. Am Mecklenburgischen Landestheater Parchim spielte sie mit Anfang 40 sowohl Mädchen als auch Mütter und Großmütter. Seit 1996 arbeitet sie am Berliner „theater 89“.

■ Die Sprecherin: Schell ist eine der deutschen Synchronstimmen von Ornella Muti, etwa in den frühen Softpornos der Italienerin.

■ Die Rednerin: Seit acht Jahren ist Katrin Schell als weltliche Trauerrednerin tätig.

■ Der Termin: An diesem Sonntag ist Volkstrauertag, der immer zwei Wochen vor dem ersten Advent begangen wird.

INTERVIEW SIMONE SCHMOLLACK
FOTO PIERO CHIUSSI

taz: Frau Schell, Sie kommen gerade von einem Beerdigungsgespräch. Wie geht es Ihnen?

Katrin Schell: Gut. Ich mache das seit fast acht Jahren, da gehört die Arbeit zu meinem Leben. Und klar, man bekommt auch Routine.

Keinerlei Betroffenheit?

Manchmal muss ich schon schlucken. Neulich saß ich auf einem alten Sofa in der Wohnung der Toten und die Tochter sagte: Da, wo Sie gerade sitzen, ist vor zwei Tagen meine Mutter gestorben.

Führen Sie die Gespräche immer in den Wohnungen der Toten?

Oft. Dort sehe ich an Büchern, CDs, Bildern, wofür sich der Tote interessiert hat. Man bekommt ein Gespür dafür, wie er gelebt hat. Aber ich hatte auch schon ein Gespräch im Steakhaus.

Haben Sie einen Fragenkatalog, den Sie abarbeiten?

Nein. Ich frage mich langsam heran, baue ein Vertrauensverhältnis auf. Viele Angehörige sind unsicher, weil sie nicht alle Lebensdaten des Toten parat haben. Aber das ist oft nicht so wichtig. Entscheidend ist, was den Menschen besonders machte. Was machte ihn glücklich, was traurig? Gibt es lustige Anekdoten? In einer Kapelle darf auch gelacht werden.

Wie lange dauert das Gespräch?

Etwa eine Stunde.

Das reicht?

Eine Trauerrede sollte nicht länger als 20 Minuten sein. Was man erzählt, muss nicht vollständig sein. Ich schreibe ja keine Biografie über eine Person, die ich nie kennen gelernt habe. Den Angehörigen sage ich: Wir nehmen, was wir wissen, und was wir nicht wissen, erfinden wir nicht.

Wie viele Grabreden haben Sie schon gehalten?

Mehrere hundert. Ich zähle sie nicht. Manchmal habe ich drei Beerdigungen am Tag, dann wieder nur zwei in einer Woche.

Der Journalist und Trauerredner Uwe Zimmer hat gesagt: Es kann schön sein, eine interessante Lebensgeschichte aufzuarbeiten.

Einmal hatte ich einen Mann, der war im Krieg Agent für drei Länder. Ich habe auch schon über Olympiasieger und Botschafter gesprochen. Ich freue mich über spannende Biografien, aber ich arbeite sie nicht auf. Das bleibt den Angehörigen vorbehalten.

Haben Sie auch schon Jüngere beerdigt?

Ja, leider. Oft sind Krankheit oder Unfall die Todesursache, und meist kommen viele Menschen zur Trauerfeier. Da habe ich manchmal einen Kloß im Hals.

Mussten Sie schon mal weinen?

Nein. Beim ersten Mal war das meine größte Angst. Aber je mehr die Trauergäste weinten, umso ruhiger wurde ich.

Dass Sie Schauspielerin sind, hat Ihnen sicher geholfen.

Ich weiß, wie ich sprechen und dass ich die Leute direkt ansehen muss, um ihre volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Das funktioniert immer. Nur einmal bin ich etwas lauter geworden.

Warum?

Ein junger Mann wurde beerdigt. Er hatte es nicht leicht im Leben gehabt: Drogen, Einsamkeit, Arbeitslosigkeit. Der wollte sich immer wieder aufrappeln, aber alle ließen ihn im Stich. Das hat er nicht ausgehalten und sich das Leben genommen. So was ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.

Kriegen Sie später noch Reaktionen von Angehörigen?

Ja, oft bekomme ich Dankesmails, Blumen, Anrufe.

Aber einzig dafür machen Sie den Job ja nicht.

Richtig, Trauerreden sind eine Dienstleistung. Redner verdienen zwischen 100 und 300 Euro pro Beerdigung. Für die Angehörigen wird es aber teurer, weil die Bestattungsinstitute für die Vermittlung Gebühren berechnen.

Wie kommen die Angehörigen auf Sie als Trauerrednerin?

Ich arbeite freiberuflich für mehrere Bestattungsinstitute. Die fragen die Angehörigen, ob sie eine Rednerin oder einen Redner wünschen. Viele Institute machen das übrigens nicht: Da geht man einfach davon aus, dass die Trauerrede ein Mann hält.

Grabreden sind Männersache?

Eigentlich nicht. Aber in der Vergangenheit haben diesen Job fast nur Männer gemacht. Früher wurden ja fast alle Beerdigungen von der Kirche organisiert.

Haben es Frauen in diesem Beruf schwerer?

Es gibt nur etwa 10 Prozent Frauen in der Branche. Meine Erfahrung ist, dass Rednerinnen mitunter besser sind als Redner – weil sie vielleicht selbst Kinder bekommen haben. Aber es drängen nach wie vor mehr Männer in diesen Beruf: Lehrer, Soziologen, Psychologen.

Warum sind Sie Trauerrednerin geworden?

Ich bin dabei Autorin, Dramaturgin, Akteurin und Regisseurin und habe jedes Mal Premiere. Auch wenn es komisch klingt: Es macht mir Spaß und ist eine riesige Herausforderung. Darauf gebracht hat mich mein Onkel. Der ist auch Schauspieler und Grabredner. Als ich Ende 30 war, habe ich ihn ein paar Mal begleitet. Damals war ich aber zu jung für diese Tätigkeit.

Zu jung?

Ja. Viele Angehörige fragen am Telefon rasch nach meinem Alter. Offensichtlich klinge ich jünger. Wenn ich sage, dass ich ein halbes Jahrhundert bereits voll habe, höre ich sie förmlich aufatmen. In diesem Job wird man erst in der zweiten Hälfte seines Lebens ernst genommen.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Grabrede?

Klar. Mein Onkel musste für den „Tatort“ drehen und fragte mich, ob ich für ihn eine Trauerrede übernehmen könne. Ich fiel aus allen Wolken und fragte: Wie ist die Dramaturgie? Was muss ich anziehen? Aber er sagte nur: „Stell dir vor, es ist deine eigene Beerdigung. So wie du sie haben willst, machst du das.“

Das ist doch makaber.

Es war das Beste, was er tun konnte: der Wurf ins kalte Wasser.

Ging denn alles gut?

Ja. Der Tote hatte früher als Zauberer am Friedrichstadtpalast gearbeitet. Auf den Sarg waren ein weißes Karnickel aus Keramik geschraubt, ein Zylinder und ein Zauberstab. Und weil der Mann ein leidenschaftlicher Kakteenzüchter war, bestand die Blumendecke aus Kakteen.

Sicher zum Leidwesen der Sargträger.

Das war aber noch nicht alles. Das Rednerpult in der Kapelle ließ sich nicht verstellen und war sehr hoch. Ich bin aber nur 1,60 groß. Also fragte ich die Angehörigen, ob nicht jemand eine Bierkiste im Kofferraum habe.

Und?

Hatte einer. Aber ich trug Highheels und stand die ganze Zeit auf Zehenspitzen. Ich wollte nicht mit den Hacken in den Rillen der Kiste stecken bleiben.

So was passiert bestimmt nicht allzu häufig.

Fast die Hälfte der Beerdigungen ist kurios. Einmal spielte ein Orgelspieler „Junge, komm bald wieder“ als Trauermusik. Bei anderen fiel eine Handtasche ins Grab, einem Witwer rutschte die Hose über die Knie, weil er in der Aufregung den Gürtel vergessen hatte. Ein anderer schnarchte bei meiner Rede, er hatte zu viele Beruhigungstabletten genommen.

Wie reagieren Sie da?

Ich behalte meinen Humor und versuche, die Situation in den Griff zu kriegen. Manchmal geht das allerdings nur schwer. Einmal lief die Witwe eines Verstorbenen energisch hinter dem Urnenträger her. Es war Sommer und der Träger hatte Sandalen an. Die Frau trat dem Mann versehentlich in die Hacken, der strauchelte, fiel fast hin und schleuderte seine Sandale ins nächste Gebüsch.

Wird heute eigentlich häufiger mit Urne oder mit Sarg beerdigt?

90 Prozent sind inzwischen Urnenbestattungen.

Särge sind out?

Auch auf dem Friedhof ist der Platz knapp. Große Gräber sind teuer, die meisten Menschen können sich das nicht mehr leisten. Viele Begräbnisse in Berlin bezahlt heute das Sozialamt.

Worin unterscheiden sich Ihre Reden von denen der Pfarrer?

Weltliche Reden sind weniger pathetisch. Aber man muss unterscheiden zwischen katholischen und evangelischen Rednern. Vielen katholischen Pfarrern geht es weniger um den Menschen, den sie beerdigen, sie reden sehr allgemein vom Verstorbenen. Ansonsten dreht sich viel um Ideologie und religiöse Riten. Die evangelischen Pfarrer gehen stärker auf die Persönlichkeit eines Menschen ein. Aber das „Vater unser“ muss ich ab und zu auch mal aufsagen, wenn Angehörige das wünschen.

Das können Sie inzwischen auswendig, oder?

Nein, ich muss es mir jedes Mal ausdrucken. Meine Angst ist zu groß, dass ich den Text vergesse. Ich habe aber auch schon einen Pfarrer erlebt, der abgelesen hat.

Beeinflusst diese Arbeit Ihr Leben?

Nein. Sie führt mir die Endlichkeit des Lebens vor Augen, aber sie verändert es nicht. Ich habe inzwischen ein positives, natürliches Verhältnis zum Tod. Und ich weiß: Es stirbt sich leichter, wenn das Herz leicht ist.

Was meinen Sie damit?

Es beruhigt, wenn man zu Lebzeiten Frieden schließt mit sich selbst und den Menschen, mit denen man im Clinch lag.