„Der Under­ground muss sich immer wieder fragen: Was müssen wir aufbrechen?“

Das bleibt von der Woche Berlin auf den Beinen: Abertausende auf der Straße am 1. Mai bei der Demo und dem Myfest, beim Gallery Weekend drängeln sich jetzt auch noch Besucher aus Köln vor der Kunst, lange Schlangen bei der Eröffnung des Holzmarkts, das neue Kreativdorf in der Stadt, und am Brandenburger Tor rufen wieder Tausende am Tag der Pressefreiheit „Free Deniz!“

Geisel kontert mit Gelassenheit

1. Mai und Rot-Rot-Grün

Der provokativ gemeinten Geste wurde der Wind aus den Segeln genommen

Zu Beginn ein Blick zurück: Als es im vergangenen Jahr nach der Regierungsbildung an die Verteilung der Senatsposten ging, wurde zumindest in den Medien eins der Ämter als Schwarzer Peter gehandelt – als Innensenator, so hieß es, könne ein roter oder grüner Politiker in Berlin nur verlieren. Am 1. Mai etwa sei die Gefahr groß, entweder vom rechten Teil der Koalition unter Beschuss genommen zu werden oder es sich mit der eigenen Wahlklientel zu verscherzen.

Vor diesem Hintergrund muss man sagen: Andreas Geisel (SPD) hat seine Sache gut gemacht. Zuerst ließ er die Ankündigung der Organisatoren der 18-Uhr-Demonstration, jene in diesem Jahr nicht anzumelden, völlig ins Leere laufen: Die Route sei ja bekannt, die Polizei könne sich also wie auch sonst auf diese Revolutionäre 1.-Mai-Demo einstellen, und über das Myfest zu laufen sei, anders als in den letzten Jahren behauptet, eigentlich auch kein Problem. Der provokativ gemeinten Geste der Nichtanmeldung wurde damit der Wind aus den Segeln genommen – gut vorstellbar, dass ein Frank Henkel nur zu gern über dieses Stöckchen gesprungen wäre.

Hinterher begegnete Geisel dann mit der gleichen Gelassenheit den aufgeregt-empörten Fragen von Journalisten, ob es denn nun Usus werde, dass Demonstrationen wie die am Montag in Berlin überhaupt nicht mehr angemeldet werden, sich die Chaoten also jederzeit völlig spontan zusammenrotten und die Stadt auseinandernehmen können …?! Geisel verwies auf das im Grundgesetz festgehaltene Recht auf Versammlung, ordnete die Anmeldepflicht richtigerweise als eine dem nachgestellte Vorschrift ein, und versuchte gleichzeitig, die Realitätsferne dieser Fragen herauszustellen, bis auch aus diesem Stürmchen die Luft raus war.

Geschickter kann man es kaum machen. Die Organisatoren der Revolutionären 1. Mai-Demonstration sowie ein großer Teil der Hauptstadtjournalisten haben nun eins gemeinsam: Wenn sie im nächsten Jahr nicht erneut auf das als Mobilisierungs- beziehungsweise Verkaufsfaktor so bewährte Vorgeplänkel zwischen linker Szene und Senat zurückgreifen wollen, müssen sie sich etwas einfallen lassen. Malene Gürgen

Klarer Vorteil für die Kunst

Gallery Weekend Berlin

Das Weekend: nun schon seit 13 Jahren erfreulicher Einstieg in die neue Saison

In einer Messekoje wäre Grey Crawfords in der Galerie Taik Persons zu sehende Fotoserie „Finding Bones“ kaum aufgefallen. Seine Schwarz-Weiß-Fotografien sind auf eine sehr stille Art und Weise spektakulär. Es braucht Ruhe, genaues Hinschauen, um zu entdecken, dass sie, die stark an Lewis Baltz’ L.-A.-Fotografien erinnern, vor allem der Malerei angehören. Deswegen hängen sie ganz richtig auf einer vom Künstler aufwendig mit Farbfeldmalerei überzogenen Wand.

Ähnliches gilt für die „Body-Built“-Skulpturen von Dan Stockholm in der Galerie Reiter. In einem toten Treppenhaus der Galerie finden die speziellen Gerüstdisplays für die durch den Syrienkrieg politisch grundierten materialästhetischen Arbeiten des dänischen Künstlers, den wir im Herbst auf einem der Großereignisse dieses Kunstjahres wiedertreffen werden, ihren idealen Standort.

Und es ließen sich noch viele weitere Galerieausstellungen nennen, mit Künstlern, die auf einer Messe zu präsentieren immer heißt, ihr Werk um wesentliche Aspekte zu mindern. Das gilt etwa für Viktoria Binschtok und ihre rund vier mal drei Meter messende „Skyview“ bei Klemm’s, eine rasante Studie über das fotografische Bild und darüber, wie im Netz mit ihm verfahren wird.

Für Galeristen wie ­Besucher hat das Gallery Weekend – am Sonntag ist der diesjährige Rundlauf durch die Berliner Galerie zu Ende gegangen – also unschätzbare Vorteile. Daher ist es nun schon seit 13 Jahren Berlins ausgesprochen erfreulicher Einstieg in die neue Kunstsaison. Obwohl es immer enger und gedrängter wird. Die Art Cologne zum Beispiel ist in diesem Jahr dem Weekend so nahe gerückt wie nie zuvor. Wohl eher zum Nachteil der Messe, denn schon am Donnerstag, dem zweiten Messetag, reisten viele der internationalen Sammler von Köln nach Berlin ab. Wer seine Kosten nicht gleich am ersten Tag eingespielt hatte, hatte Grund zur Sorge.

Interessanter- wie klugerweise wollen Köln und Berlin ihre Rivalität beenden. Anlass bietet die abc im Herbst, die, einst als Alternative zum Art Forum gegründet, der Berliner Kunstmesse den Todesstoß versetzte. Anders als das Gallery Weekend war die art berlin contemporary immer ein merkwürdiger Hybrid: ein bisschen Messe, Kollektivausstellung und Galeriewochenende.

Hier bei der abc steigt nun die Art Cologne ein, die unter Druck steht, seit bekannt ist, dass die MCH Group, die Muttergesellschaft der Art Basel, die Art Düsseldorf übernimmt, zusätzlich zur Art Basel Miami und der Art Basel Hongkong. Dagegen geht es nur gemeinsam. Schon in diesem Herbst. Brigitte Werneburg

Sehnsucht nach dem Anderen

Holzmarkt eröffnet

Über dem Gelände wehte eine rote ­Fahne. Der Aufdruck: ein Fragezeichen

Sie kamen scharenweise, sie kamen in Pink und Rosa, und sie tanzten zu Techno und House. „Wir treiben’s bunt & bleiben rosa“, lautete das Partymotto zur Eröffnung des neuen Kreativdorfs Holzmarkt am 1. Mai, und dass sich lange Schlangen am Eingang bildeten, war wenig verwunderlich. Denn der Holzmarkt, das ist der legitime Nachfolger der berühmten Bar 25, die in den nuller Jahren am Spreeufer einer der wildesten Orte der Club- und Alternativszene war: eine Mischung aus Ökodorf, Technospielwiese und Bauwagenplatz. Seit 2012 hat die Holzmarkt-Genossenschaft, die in Teilen aus den alten Bar-25-Leuten besteht, am Nachfolger an selber Stelle getüftelt. Das Grundstück hat man mithilfe einer Schweizer Stiftung erworben.

Draußen wirkte es während der Eröffnungssause wie ein Reenactment der Berliner Neunziger – ein Open-Air-Rave mit viel Haut und Hinterngewackel. Man kämpfte sich durchs Gewimmel und Gedrängel zwischen Feuerstellen, Ateliers, einer Bäckerei, einem Café, Open-Air-Bühnen und Veranstaltungssaal. Hoch oben über dem Gelände und den Bauten, die wie eine zusammengestückelte Holzburg wirken, wehte eine rote Fahne. Der Aufdruck: ein Fragezeichen.

Das passte gut, denn das Holzmarkt-Projekt bietet viel Anlass für Fragen zum Thema städtische Freiräume sowie Sub- und Klubkultur – und im kleinen „Sälchen“ des neuen Hauses wurden diese am Eröffnungstag auch gestellt. Dort sprachen unter anderem Love-Parade-Mitgründerin Danielle de Picciotto und Städteforscher Charles Laundry über die Zukunft der Freiräume und der Subkulturen in Berlin. De Picciotto hielt gleich mal fest, dass schon das stetige Fragestellen an sich verdienstvoll sein kann, denn Berlin sei eigentlich immer eine „Stadt des Hinterfragens“ gewesen. Der Underground, so die Künstlerin, müsse sich immer wieder fragen: „Was müssen wir aufbrechen?“ Laundry hingegen sprach von der Sehnsucht nach einer „Other City“, einer „postkapitalistischen, Post-irgendwas-City“ – im Gegensatz zu seiner Heimatstadt London sei Berlin diesbezüglich noch immer ein Hoffnungsschimmer.

Wenn man so will, ist Le Dörf, wie die Betreiber selbst den Holzmarkt nennen, diese „Other City“ im Kleinen. Dort wird es vor allem wichtig sein, sich selbst immer wieder infrage zu stellen. Denn die Gefahr, ein alternatives Disneyland statt ein Motor für Kulturprojekte zu sein, dürfte beim Holzmarkt bestehen. Als man aber drei Stunden lebendige Diskussion im „Sälchen“ mit den Betreibern und Besuchern hinter sich hatte, konnte man guter Dinge sein, dass hier künftig die richtigen Fragen gestellt werden.

Jens Uthoff

Parole gilt: Freiheit für Deniz

Auf die Presse!

Jilet Ayse weiß Bescheid: "AKPund AfD könnten Zwillinge sein"

Sookee und Peter Licht, Mikail Aslan und Andreas Dorau, Christiane Rösinger und die Antilopen Gang, die Sterne und Sultan Tunc, Jasmin Tabatabai und Notwist, der taz-Chor und An­dreas Dorau, dazwischen Videoeinspieler von Udo Lindenberg, Sibylle Berg und Peter Kloeppel und Kurzauftritte von Oliver Polak und Jilet Ayse – was für eine Mischung. Kein Festivalkurator könnte sich so ein Line-up ausdenken.

Ein gemeinsames Anliegen hat die Künstlerinnen, Journalisten und die Leute vor der Bühne am Mittwoch vor dem Brandenburger Tor zusammengeführt. Zum Tag der Interna­tionalen Pressefreiheit hatte der Freundeskreis #FreeDeniz die Kundgebung unter dem Motto „Auf die Presse!“ organisiert. Gefordert wurde „Freiheit für alle inhaftierten Journalisten in der Türkei und anderswo“.

Vorher hatte alle die Frage umgetrieben: Wird es regnen? Können die Massen mobilisiert werden? Die Sonne schien kurz, am Anfang zählte die Polizei 800 Teilnehmer, aber am Ende waren es wohl mindestens 3.000, vielleicht deutlich mehr. Viele hatten Schilder dabei, die Stimmung war gut, es wurde zugehört und getanzt.

Unterstützt wurde die Kundgebung von Reporter ohne Grenzen, Welt/N24, taz, Amnesty International und Jungle World. Für die Fans von Putin, Erdoğan und Trump, von Familie, Heteronormativität und einem patriarchalischen Gewaltmonopol, für Verschwörungstheoretiker und Antisemiten, für „all die Pseudogesellschaftskritiker, die Elsässer, KenFM-Weltverbesserer“, wie die Antilopen Gang rappte, für die ganze autoritäre Querfront also dürfte das ein Beweis mehr für die Existenz des alles durchdringenden Systems und seiner Presse sein: Bild lügt, taz auch. Jilet Ayse aber weiß Bescheid: „AKP und AfD könnten Zwillinge sein.“

Manche fragten sich: „Bringt so eine Kundgebung überhaupt was?“ Ja klar, weil gerade um die Deutungshoheit gekämpft wird zwischen den Autoritären und denen, die sich dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtet fühlen. Wenn Systempresse heißt, für einen emanzipatorischen Konsens einzutreten, dann soll sie hochleben.

Wie erklärt Jilet Ayse das? „Deniz steht für was, was wir alle brauchen: Meinungsfreiheit. Wenn ich keine Meinungsfreiheit habe, dann kann ich nicht sagen: Ihr Scheißkartoffeln, hört auf mit Leitkultur!“ Hier aber sind alle Ayses Süßkartoffeln: „Ihr geht mit uns in Solidarität, und ich schwöre, ihr kriegt das tausendfach zurück.“

Ulrich Gutmair