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Jana Janika Bach, geb. 1983, freie Autorin, arbeitet unter anderem für die taz, die Berliner Zeitung und das Deutschlandradio zu Kultur und zeitgenössischer Kunst. Daneben schreibt sie Hörspiele und literarische Texte. Aktuell lebt und arbeitet Bach in Berlin und New York.

Annatomie

Jana Janika Bach, geb. 1983, freie Autorin, arbeitet unter anderem für die taz, die Berliner Zeitung und das Deutschlandradio zu Kultur und zeitgenössischer Kunst. Daneben schreibt sie Hörspiele und literarische Texte. Aktuell lebt und arbeitet Bach in Berlin und New York.

Jana Janika Bach

Das Thermometer hatte einen Sprung gemacht. Auf 21 Grad. Nur wenige Wochen vor der Tagundnachtgleiche. Dazu Sonne satt. Unerwartet viele Menschen drängten sich durch die Straßen.

Sie schnallte das Rad um einen Pfosten und bog von der Hannoverschen ab. Bloß nicht die Chaussee hinunter. Felix hatte den gestrigen Abend viel geredet und sie mehr getrunken als die üblichen zwei Gläser Wein.

Sie würde die Reifen ein andermal wechseln lassen, immerhin die Tickets könnte sie noch am DT abholen. Auf der Friedrichstraße schirmte sie die Augen gegen das Licht, das dem Himmel sein Blau genommen zu haben schien.

Im Schritttempo überfuhr der Autofahrer die rote Ampel an der Kreuzung zur U-Bahn-Haltestelle Oranienburger Tor, ein Passant erboste sich. Sie kürzte ab, schräg auf Lehmanns Papiershop zu. Gleich nebenan, bei dem Spielzeugladen „Die kleine Gesellschaft“, traten sie aus der Tür. Im Dreiergespann. Zuerst die Frau, dann der Mann, an der Hand ein Mädchen, vielleicht um die sechs Jahre alt. Ihr Tornister schien gewaltig. Während das Mädchen eindringlich auf etwas im Schaufenster zeigte, zog der Mann die Frau an sich heran.

Sie war stehen geblieben. Der Wind stieß das Netz voller Bälle unter der grünen Markise hin und her, nahm ihr zwischenzeitlich die Sicht. Auf den Mann und die Frau und das Mädchen. Sie erkannte Anna sogleich, obschon sich keiner der drei ihr zuwandte. Sie hätte geschworen, diese Bewegungen, dieses Wischen und Zwischen-den-Fingern-Drehen, vergessen zu haben.

Sie stand da, für eine Weile oder einen kurzen Moment, betrachtete die Rücken, sah zu, wie Annas braune Locken bei jedem Kopfschütteln über dem Kragen des blauen Trenchcoats wippten. Wie sie sich sträubten beim Zurückstreichen.

Als sich der Mann zu dem Mädchen hockte und alle drei in das Schaufenster blickten, zog sie schnellen Schrittes am Spielzeugladen vorüber. Doch statt wie geplant Richtung Friedrichstadtpalast weiterzugehen, bog sie ab, um die nächste Ecke, in die Claire-Waldoff-Straße.

Sie lief durch eine Schranke und über den Platz mit der Europaflagge. „Kann ich weiterhelfen?“ Ohne anzuhalten deutete sie auf die stillgelegte Straße, die sich hinter dem Eisentor gerade in die Länge streckte. „Ach so, aufs Universitätsgelände“, der Wachmann nickte ihr freundlich zu.

Zur Linken säumten Grasflächen den Gehweg, zur Rechten einstöckige Bauten, kleine Gärten. Duftender Wildwuchs vor dem Institut für Agrar- und Stadtökologische Projekte. Sie atmete ein. Nur wenige Meter weiter und sie stand im Park, eine Insel, umgeben von Herrschaftshäusern aus rotem Backstein, Bäumen in Kirschblüte, Wiesen und Steinpassagen.

Die Äste und Blätter warfen Schattenmosaike auf den Boden, dazwischen verteilten sich rote Beeren.

„Hi.“ Blauer Trenchcoat, weiße Turnschuhe. Anna. Nicht älter und nicht viel größer als sie. Sie hob die Hände und ließ sie wieder fallen, als wären sie mit einem Male leblos. „Hi.“

Anna zuckte mit den Schultern: „Das war kurzentschlossen.“ Nach einem Moment der Stille fügte sie hinzu: „Ich habe dich nur von hinten gesehen. Eigentlich war ich auf dem Weg nach Hause. Den hier wegbringen.“ Die Plastiktüte, die Anna in die Höhe hielt, war mit Wasser gefüllt. „Was ist das?“ „Ein Sumatrabarbe.“ Schwarze Streifen vor blässlicher Fischhaut.

„Paula hat sich den gewünscht, ihr Geburtstag war letzte Woche.“ „Du hast also eine Tochter.“ Anna lächelte. Kein Halbsichellächeln, sondern ein ganzes, mit Grübchen: „Sie ist sieben. Und du?“ „Keine Kinder. Felix gibt es.“ „Arbeitest du noch freiberuflich?“ „Nein, nicht mehr. Ist aber alles noch relativ frisch.“ „Ich bin wieder seit Oktober festangestellt“, sagte Anna, „seit Paulas Einschulung sind wir auch erst zurück in Deutschland.“ „Ihr wohnt jetzt in Mitte, ja?“ Anna lachte: „Du bist gemein. Dass ich hier mal lande, hätte ich noch vor fünf Jahren nicht geglaubt.“

Sie gingen ein Stück. „Ein unwirklicher Ort, findest du nicht?“ Anna nickte: „Wie ein Dorf mitten in der Stadt.“ „Ziemlich beeindruckend, dass das früher alles zum Gelände der Königlichen Tierarzneischule gehörte.“ Sie blickten sich um: das DT von hinten, die Grünanlage, eine kleine Brücke, die im Bogen über einen Fluss führte. Ein weißer Block, die Charité, ragte hinter dem klassizistischen Bau in Pastellgelb empor. Sein dunkles Kuppeldach glänzte wie der Panzer eines Käfers im Sonnenlicht. „Warst du mal wieder hier?“, fragte sie Anna. „Ewig nicht mehr.“ „Wollen wir reinschauen?“ „Du meinst, ins Anatomische Theater?“

Ein Rezeptionist hockte im Parterre. Anna hob wieder die Plastiktüte. „Darf ich den mit reinnehmen?“ „Lebende Tiere sind im Gebäude nicht gestattet.“ „Ist kein Tier. Ein Sumatrabarbe.“ „Wir haben es nach der großen Renovierung noch gar nicht besucht,“ ergänzte Anna. Der Mann ließ die Augen nicht vom Fisch: „Fest verschlossen?“ Beide nickten. Er verzog das Gesicht: „Okay, aktuell wird eh keine Ausstellung gezeigt.“

Sie durchwanderten das Souterrain, vorbei an einer Gipsbüste Carl Gotthard Langhans, Erbauer des Kuppelhauses. Dann Friedrich Wilhelm II. zu Ross, Tuschzeichnungen und Fotografien, Historisches zum rund um die Arzneischule angelegten Reußschen Garten. Weiß bekittelt: der erste Direktor der Sektion Nahrungsmittelkunde nebst Entourage.

Sie redeten. Von damals, einem Heute, schlenderten von einem Lehrraum zum anderen. Blaue Werktische, goldene Türknaufe und Schränke bis an die Decken, an deren obersten Enden jeweils ein modellierter Ziegenschädel angebracht war. Dazwischen Vitrinen, „Squalus acanthias L.“, las Anna die Beschriftung vor. „Ein einbalsamierter Dornhai.“ Länger standen sie neben der Hebebühne unter dem Loch und versuchten sich vorzustellen, wie die Pferdekadaver von hier ein weiteres Stockwerk hoch in den Hörsaal gehievt worden waren.

Beim Aufstieg strich Anna mit der Hand über das fein geschnitzte Geländer im Saal: „Wie eine Arena.“ „Oder ein Kolosseum.“ Die Fenster, im Halbrund eingelassen, gaben viel Licht. Das Loch für die Hebebühne und der Seziertisch waren abgedeckt. Unter der bemalten Kuppel setzten sie sich in eine der Bankreihen.

„Ich hätte dich damals gebraucht,“ Anna rückte die Plastiktüte neben sich zurecht: „Du warst nicht da.“ „Stimmt, ich war nicht da.“ Sie starrten beide auf das Rednerpult. Dahinter violette Wände, dunkelgrün gerahmt. „Es war nicht richtig“, sagte sie schließlich und schaute Anna dabei an. „Ebendeshalb hätte ich dich gebraucht“, erwiderte die.

„Das hätte stumme Zustimmung bedeutet. Oder nicht?“ „Es war meine Entscheidung,“ Annas Stimme klang fest, ihre ebenso: „Und es war meine, deine nicht mitzutragen.“ Keine Worte. Für wer weiß wie viele Minuten. Zu ihren Köpfen Malerei. Pferde, Ziegen, Männer mit Speeren.

Sie zog die Augenbrauen zusammen, bevor sie Anna wieder ansah: „Keine Ahnung. Ich habe mich oft gefragt, ob es, wenn es ein richtiges im falschen, auch ein falsches im richtigen Leben gibt.“ „Ernsthaft? Du kommst jetzt mit Adorno?“, Anna strich sich die Haare zurück: „Du, der Sumatrabarbe sieht nicht gut aus.“ „Das sind die trüben Aussichten für ihn.“ „Kein Quatsch, schau mal. Er wirkt ganz apathisch.“ „Tatsächlich. Wie lange können Zierfische überhaupt in einer Plastiktüte überleben?“ „Einige Stunden, denke ich“, sagte Anna, ohne sich von dem Sumatrabarben abzuwenden. „Vielleicht solltest du ihn schwimmen lassen. Draußen ist doch dieser kleine Fluss.“

Auf der Brücke beugten sich die beiden Frauen über die Balustrade, anderthalb Meter, tiefer war es wohl nicht. Grünbraun breitete sich unter ihnen das Flussbett aus. Pfützen, mehr hatte der Winter nicht übriggelassen.

Sie überlegten nur kurz.

Zu Anna war es von hier nicht weit.