„Ich bin keine Idealistin“

UNGEDULD Monika Lüke über ihren Stil als Deutschlandchefin von Amnesty International, die Prägung einer Pastorentochter und ihre Gewissensbisse gegenüber Taxifahrern

■ Ihre Herkunft: Geboren am 24. Januar 1969 in Bochum. Sie wächst als Tochter einer Pastorenfamilie mit ihren drei Geschwistern in Dortmund auf.

■ Ihr Engagement: Mit 21, als Jurastudentin, arbeitet sie ehrenamtlich bei der Asylberatung von Amnesty International in Bonn. Seitdem ist sie der Menschenrechtsarbeit treu geblieben.

■ Ihre Karriere: Juristisches Staatsexamen 1996, Promotion über „Immunität staatlicher Funktionsträger bei schweren Menschenrechtsverletzungen“ 1999. Bis 2001 lehrt und forscht sie in London und berät die britische Regierung bei der Umsetzung des Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof. 2001 bis 2005 vertritt sie die Migrations- und Flüchtlingspolitik der Evangelischen Kirche in Brüssel und Berlin. Bis 2009 arbeitet sie als GTZ-Expertin in Kenia und Kambodscha. Seit Juli leitet sie die deutsche Amnesty-Sektion in Berlin.

INTERVIEW JOHANNES GERNERT
UND BERND PICKERT
FOTOS BERND HARTUNG

taz: Frau Lüke, Sie haben kurz nach Ihrem Amtsantritt ein Mediencoaching gemacht. Warum das?

Monika Lüke: Um das Handwerkszeug zu lernen. Anders als Jura hab ich den Umgang mit Medien ja nicht studiert.

Und was haben Sie da gelernt?

Zum Beispiel, dass man den Kopf möglichst nicht schräg hält und dann behauptet, man täte das doch gar nicht. Angeblich ist das ein Frauenphänomen, den Kopf schräg zu halten.

Das muss man üben?

Schon, ja. Der schräge Kopf kommt nicht gut.

Das klingt anstrengend. Macht der Job Ihnen denn Spaß?

Oh ja. Er ist anspruchsvoll, fordert mich und geht selbst mir manchmal zu schnell, macht aber Spaß.

„Selbst mir“ – was soll das heißen?

Ich bin eher ungeduldig, für mich ist Tempo was Wichtiges, aber hier geht mir der Tag manchmal zu schnell rum.

Schreien Sie herum, wenn etwas nicht gleich funktioniert?

Eher nicht. Aber ich stehe selbst unter Spannung und bin auch extrem ungeduldig, was mein eigenes Leben angeht.

Wie passt Ungeduld zu Menschenrechtsarbeit, bei der man sich oft mit wenig zufriedengeben muss?

Das geht ganz gut, weil man tatsächlich jeden Tag kleine Erfolge hat. Das kann sein, dass das Auswärtige Amt anruft und sagt: Sie haben doch neulich dieses oder jenes Thema angesprochen, wir würden uns da gern weiter drum kümmern. Oder dass man eine Eilaktion gemacht hat und die Nachricht erhält, dass jemand freikommt. Oder ich bin in Kenia, bin verabredet, um in einem Dorf mit den Menschen über das Recht auf Nahrung zu sprechen, und die verstehen ganz genau, dass es jetzt nicht um Lebensmittelhilfe geht, sondern um Recht, Verantwortung und Diskriminierung. Außerdem …

Ja?

Außerdem ist Ungeduld wichtig, weil damit auch Beharrlichkeit einhergeht.

Ist das so?

Bei mir ja.

Was ist anders, als Sie es sich vorgestellt haben?

Ich bin überrascht von den Gestaltungsmöglichkeiten und von den vielen offenen Diskussionen, die ich innerhalb der Organisation führen kann. Ich bin – und das hat mir in Kambodscha gefehlt – dauernd intellektuell gefordert, bekomme auch eine Menge Input, aber auch Kritik. Das ist wunderbar.

Was lief denn in diesen ersten vier Monaten so richtig super?

Die juristischen Themen, die mir wichtig sind, wie Menschenrechte und Kampf gegen den Terror, Folterverbot, Grundrechtsbindung der Bundeswehr – da machen wir viel, halten das auf der Tagesordnung. Beim zweiten wichtigen Thema, Menschenrechte und Armut, haben wir leider Probleme, es zu platzieren.

Sie meinen solche gescheiterten Aktivitäten wie am 2. Oktober. Sie bereiten eine große Aktion zum Thema Zwangsräumungen in Slums vor, und dann kommt kaum Presse, es gibt fast keine Berichterstattung. Enttäuscht Sie das?

Das treibt mich eher an. Viele halten das offenbar nicht für ein Menschenrechts-, sondern für ein Ressourcenproblem. Das ist ein Missverständnis! Gerade bei Zwangsräumungen zeigt sich das so deutlich: Weltweit lebt eine Milliarde Menschen im Slum, das ist jeder sechste. Ein Leben im Slum ist davon gekennzeichnet, dass man in unsicheren Besitz- und Eigentumsverhältnissen lebt, keinen formellen Mietvertrag hat, kein sauberes Wasser hat, dass acht Menschen auf zehn Quadratmetern leben. Das Leben in Slums ist schon an sich menschenrechtlich bedenklich. Wenn diese Menschen dann noch über Nacht vertrieben werden, nur weil sie kein Dokument haben, um ihren Besitz nachzuweisen, sondern nur noch ihre Kinder an die Hand nehmen und sehen können, wo sie bleiben – dann ist das eindeutig ein Angriff auf Menschenwürde! Aber es ist uns bisher nicht gelungen, das zu vermitteln.

Für Sie selbst scheint das Thema sehr präsent zu sein. In den letzten Jahren waren Sie für die Entwicklungsorganisation GTZ in Kambodscha. Haben Sie dort persönliche Erfahrungen damit gemacht?

Es gab da diesen Slum direkt im Zentrum von Phnom Penh. Ich bin da immer mit dem Fahrrad vorbeigefahren. An einem Wochenende hatten wir im Norden des Landes GTZ-Versammlung – und als ich am Montag wieder zur Arbeit fuhr, war der Slum nicht mehr da. Aus der Zeitung war dann zu erfahren, dass der Slum am frühen Samstagmorgen geräumt worden war. Als ich das Land verließ, standen an der Stelle bereits Hochhäuser, die leer waren, weil da keiner einziehen wollte.

Die Klischeevorstellung von GTZ-Experten im Ausland ist geprägt von sehr großen Jeeps …

Das Programm, das ich geleitet habe, hatte einen Nissan, die sind klein …

aber Sie sind mit dem Fahrrad durch Phnom Penh gefahren. Waren Sie anders?

Ich habe in Kambodscha in einem kleinen Haus mit einem großen Garten mit Mangos und Bananenbäumen gelebt. Damit wurde ich auch für die lokale Community verantwortlich. Ich habe daher versucht, die Leute zu motivieren, den herumliegenden Müll einzusammeln, in Tüten zu verstauen und dem Müllauto mitzugeben. Angefangen habe ich mit meinen Angestellten und ihren Kumpeln, die ich dann dafür zunächst bezahlt habe; dann kamen die Kinder hinzu, die bekamen dann Cola oder durften im Garten Mangos pflücken. Irgendwann konnte ich die Prämien reduzieren – nur wenn ich mal ein paar Wochen nicht da war, schlief alles wieder ein, und ich musste mit einem Prämienschock gegensteuern. Nicht sehr nachhaltig. Und für die, die bei mir arbeiteten, war es natürlich unglücklich, als ich wegging, weil sie von mir abhängig waren.

Hat es Ihnen gefallen, von Leuten umgeben zu sein, die entweder von Ihnen abhängig waren oder etwas von Ihnen wollten?

Nein. Sosehr ich manche Sachen in Kambodscha vermisse, so sehr hab ich doch gemerkt, dass ich in eine egalitärere Gesellschaft gehöre und das angenehmer finde. Die Rolle, die ich dort hatte, bringt ja auch Verantwortung mit sich. Man muss entscheiden, was von der medizinischen Behandlung, die jemand braucht, man übernimmt. Hier braucht jemand Geld für sein Haus, dort für was anderes, und natürlich helfe ich gern, aber ich muss ja auch mal Nein sagen, und es ist nicht leicht, damit klarzukommen, ohne jemand zu verletzen.

Das klingt nach dem Versuch, sich menschlich und gerecht zu verhalten. Haben Sie das hinbekommen?

Ich wusste, ich kann die Welt nicht umkrempeln, bin keine Missionarin und auch nur in begrenztem Maße Idealistin. Nein, eigentlich bin ich keine Idealistin.

Sie haben gesagt, AI-Generalsekretärin sei nicht, wie Müntefering einst zum SPD-Vorsitz gesagt hat, das schönste Amt neben Papst, sondern für sie als Protestantin sogar schöner als Papst.

Vielleicht stimmt das. Es ist für mich ein großer Glücksfall. Wie ich das fülle, liegt an mir.

Wie wichtig ist denn Ihr kirchlicher Hintergrund? Sie sind in Bochum geboren …

… und in Dortmund aufgewachsen. Mein Vater war Pastor.

Ehrlich? Warum liest man das nirgends?

Weil das ja nichts zur Sache tut. Es geht doch um die Sache, nicht um meine Person.

Aber das hat doch miteinander zu tun. Man stellt sich so richtig die Sozialisation vor: Blockflötenkreis, Kirchentag, dann Amnesty. Trifft das?

Blockflöte kann ich nicht, ich spiele Trompete. Es gibt ja auch die Posaunenchöre.

Und sonst?

Mit einer protestantischen Sozialisation geht das protestantische schlechte Gewissen einher, und wenn man das vermeiden will, muss man Verantwortung übernehmen. Das wurde bei uns zu Hause gepredigt und gelebt. Gerade im Ruhrgebiet ist es so, dass beim Gemeindepastor zum Beispiel Obdachlose klingeln und der Pastor überlegen muss, was er tut. Gibt er ihnen Geld, gibt er ihnen was zu essen, beides? Einen Job auf dem Friedhof vielleicht? Bewusstsein für Recht allerdings und dass man gegen Ungerechtigkeit vorgehen muss, hab ich eher in der Schule und noch stärker im Freundeskreis mitbekommen.

Gab es darüber einen Konflikt mit Ihren Eltern? Im Sinne von: Ungerechtigkeit bekämpfen versus Wohltätigkeit?

Nein, überhaupt nicht.

Worum ging’s dann bei Ihnen? Welcher Konflikt hat bei Ihnen zur Abnabelung geführt?

Meine Eltern kommen aus einem sehr deutschen Kontext, sind sehr örtlich verwurzelt. Meine Neugier und das Fehlen der Besorgnis, sich mit neuen Dingen zu beschäftigen, haben sie sehr befremdet.

Haben Ihre Eltern Sie besucht?

In Kambodscha, ja.

Wie war das?

Das hat mir die Augen geöffnet. Auch im Freundeskreis gehen wir ja unterschiedliche Wege, und vielleicht überfordere ich manchmal Menschen, die sich für ein stark örtlich verwurzeltes Leben entschieden haben.

Spielt Religion heute eine Rolle für Sie?

Ja, unter anderem verkörpert durch das schlechte Gewissen.

Tatsächlich?

Ja. Mein Kollege Dawid Bartelt und ich hatten uns zum Beispiel gerade beim ARD-Hauptstadtstudio ein Taxi bestellt. Es kam aber einfach nicht. Wir haben ewig überlegt, ob wir einfach eine der vielen vorbeifahrenden Taxen heranwinken können oder ob wir weiter auf das warten müssten, das wir bestellt hatten.

Und, was haben Sie gemacht?

Wir haben lange gewartet, und dann haben wir an der Pforte Bescheid gesagt, dass wir jetzt ein anderes Taxi nehmen, und sind mit schlechtem Gewissen ins nächste eingestiegen.

Sie haben Jura studiert. Jura- und Medizinstudenten waren immer die, die beim Unistreik nicht mitmachen. Warum Jura?

Das Grundgesetz und seine Geschichte haben mich schon zu Schulzeiten interessiert; ich glaube, ich bin insofern wirklich Verfassungspatriotin. Ich hatte eigentlich überlegt, Politik und Geschichte zu studieren. Das wurde zu Hause ziemlich kontrovers diskutiert, und so habe ich’s mit Jura probiert. Das hab ich dann versucht, und da ich zu Zeiten von deutscher Vereinigung und Zerfall der Sowjetunion studiert habe, konnte ich wirklich immer die aktuelle Relevanz und die politische Implikation gerade von Staats- und Völkerrecht sehen. Insofern hatte ich, was ich suchte. Glück gehabt.

Sie wollten nie Richterin oder Anwältin werden?

Nie.

Sie haben über internationale Strafjustiz promoviert. Das ist auch ein Arbeitsschwerpunkt von Amnesty International – warum hängen Sie sich da nicht so rein?

Mach ich doch. Mir sind zwei Themen wichtig: Menschenrechte und Armut einerseits und die Einhaltung der Menschenrechte beim sogenannten Kampf gegen den Terror, besonders das Folterverbot andererseits. Und dazu gehört eben auch, Polizisten und Soldaten, die foltern, und Minister, die das anordnen, vor Gericht zu bringen.

Das sind ja ziemlich unterschiedliche Ebenen, ob es nun etwa um Einsatzpläne der Bundeswehr geht oder um Slums in Kambodscha.

Es sind unterschiedliche Ministerien in Deutschland zuständig, aber letztlich ist die Amnesty-Arbeit dazu ähnlich.

Haben Sie mit der neuen Bundesregierung schon Termine ausmachen können?

Wir würden uns sehr freuen, Herrn Westerwelle bald zu treffen. Wir hoffen, dass er den Mehrwert eines solchen Gesprächs auch bald erkennt.

Bislang tut er das nicht?

Es scheint uns so.

Was schätzen Sie eigentlich an Angela Merkel?

Ich könnte jetzt sagen: dass sie Pastorentochter ist. Und das wäre gar nicht so falsch. Wenn ihr etwas wichtig ist, dann setzt sie sich dafür ein, unabhängig von Parteigrenzen.

Haben Sie auch ein Lob für den neuen Bundesentwicklungsminister?

Ich hab noch die Hoffnung, dass ich irgendwas schätzen lerne. Ich hab in dem Bereich die letzten vier Jahre gearbeitet, damit Deutschland gute Entwicklungspolitik macht. Im Menschenrechtsbereich konnte Deutschland Vorreiter sein, weil die Deutschen gute Projekte im Ausland machen – jetzt sieht es so aus, als würde das alles so weggeblasen. Hoffentlich täusche ich mich.

„Zwangsräumungen sind ein Angriff auf die Menschenwürde. Aber es gelingt uns kaum, das zu vermitteln“

Wie sind denn die Erfahrungen im Umgang von Politikern mit Ihnen bisher? Werden Sie mit offenen Armen empfangen, als Bittstellerin, als Nervensäge?

Mit Respekt. Kontrovers, aber sie haben zugehört, auch und gerade Wolfgang Schäuble.

Fühlen Sie sich in solchen Unterhaltungen wohl?

Wenn ich kommunizieren kann: Ja!

Ist das nicht reiner Druck: Ich hab jetzt eine halbe Stunde, um meinen Punkt rüberzubringen?

Ich habe immer über eine Stunde. Das erstaunt mich selbst. Aber sobald ich von Angesicht zu Angesicht kommunizieren kann, belastet mich das nicht. Denn das kann ich gut.

Als Amnesty-Generalsekretärin müssen Sie parteipolitisch stets neutral sein. Nervt Sie das nicht?

Nein. Es ist doch ein Luxus, einfach der Linie folgen zu können, die am überzeugendsten ist.

Aber ist es nicht schrecklich, auf so eine einfache Frage wie etwa: „Hätten Sie sich von Rot-Grün mehr erwartet als von Schwarz-Gelb?“, nichts sagen zu dürfen?

Dann sage ich: Jede Regierung messe ich daran, wie sie die Menschenrechte umsetzt.

Das stimmt doch gar nicht. Sie haben doch Präferenzen.

Als Privatperson – aber das kann ich trennen. Das ist wie bei Beamten.

Aber Sie wollen politisch Einfluss nehmen, die Beamten sollen das gerade nicht.

Es ist doch ein Riesenprivileg, dass ich wirklich Sachpolitik machen kann und mich nicht durch parteipolitische Scheuklappen einschränken muss.

Ist das nicht sehr bequem? Sie können immer das Maximum fordern, ohne sich um Kompromisse zu scheren.

Stimmt ja nicht, denn nur vom Fordern hab ich nichts. Ich will ja, dass Dinge umgesetzt werden. Da muss ich Kompromisse eingehen.

Aber Sie können relativ hoch einsteigen.

Das hängt von der Situation ab. Selbst bei öffentlichen Aktionen kann es sinnvoller sein, niedrig einzusteigen.

Sie sagen zum Beispiel, Europa könnte seine Grenzen komplett öffnen, ohne dass das ein Problem wäre. Das ist doch recht hoch eingestiegen.

Ich sage, dass Flüchtlinge einen Zugang zum Asylverfahren auf EU-Territorium haben müssen. Da gebe ich nur die Rechtslage der Genfer Flüchtlingskonvention wieder. Wenn ich im Mittelmeer die Grenzen mit Wachbooten vorverlege, dann muss ich auch den Schutz, den die Konvention fordert, vorverlagern. Juristisch spricht man da von der positiven Garantenpflicht.

Folter, Flüchtlinge, Mord und Elend – wie kommt es, dass Sie immer so freundlich wirken?

Wenn ich konzentriert bin, wirke ich nicht freundlich, glauben Sie mir.

Oje, was sagt uns das über die letzten eineinhalb Stunden?

Wir haben interagiert – wenn ich konzentriert nur zuhöre, sehe ich unfreundlich aus.

Kann es ein Problem werden, wenn man als Gesicht von Amnesty International zu sympathisch wirkt?

Kann, aber das wäre ein Missverständnis. „Sympathisch“ heißt weder harmlos noch lieb.

Johannes Gernert, 29, sonntaz-Autor, auch als Protestant erzogen

Bernd Pickert, 44, Redakteur, Atheist – und für Menschenrechte