Hausbesuch Nadine Nourney will nicht auf die Sonderschule, wie die Ärzte empfehlen. Sie will nicht Sprachen studieren, wie ihre Eltern sich wünschen. Sie will Schauspielerin werden, auch wenn alle dagegen sind
: Mit dem Sosein fesseln

Ein Klavier hat noch im kleinsten Zimmer Platz

von Nora Belghaus
(Text) und Ksenia Les (Fotos)

Zu Besuch bei Nadine Nourney, 26, in ihrer kleinen Einzimmerwohnung in der Nähe des Charlottenburger Schlosses in Berlin.

Draußen: Geschäftiges Treiben auf dem Weg vom S-Bahnhof Westend zu Nadine Nourney. Der Himmel wolkenverhangen, die Luft kühl. In den Straßen reihen sich alte Backsteingebäude, klassische Berliner Mietshäuser der Jahrhundertwende, Nachkriegsbauten und großflächige Parkplätze eines Fliesengroßhändlers aneinander.

Drinnen: Ein winziger Flur, ein einziges Zimmer. Dort arbeitet, schläft, isst, lebt sie. Ein bisschen wirkt es wie das Zimmer eines Teenagers. Fotos von Freunden und Verwandten stehen rum, Postkarten, Briefe, Zeichnungen. Einige Kuscheltiere sitzen auf Schrank und Bett.

Immer: Wie sie wahrgenommen wird, damit beschäftigt sich Nourney seit Langem. Denn so „normal“ sie erscheint, gibt es doch etwas, das sie „anders“ macht. Ihr Körper produziert weniger Melanin, sie ist mit Albinismus zur Welt gekommen. Daher die hellen Haare und hellen Augen. Es fällt kaum auf, tut auch nicht weh. Mit dem Albinismus geht eine Sehschwäche einher. Ihre Augen bewegen sich zitternd hin und her, wie ein aufgeschrecktes Pendel. Mal stärker, mal schwächer. Mit Brille sieht sie 30 Prozent. Über Dinge, die sie wegen ihrer Augen nicht tun kann, spricht sie leise. Laut spricht sie über das, was sie kann.

Kind: Nourney wächst in Pulheim bei Köln auf. Die Ärzte empfehlen ein „behindertengerechtes Zuhause“, die Eltern finden, das muss nicht sein. „Natürlich haben sie manchmal die Hände vors Gesicht geschlagen, wenn ich mal wieder haarscharf an einer Kante vorbeigerannt bin.“ Nourney lernt die Räume, in denen sie sich bewegt, „abzuscannen“. Noch heute macht sie das so, wenn sie zum Beispiel an einen neuen Probenort kommt.

Sie spricht laut über das, was sie kann: die Schauspielerin Nadine Nourney in ihrer Einzimmerwohnung

Schule: Die Ärzte sagen auch, sie werde auf eine Sonderschule gehen müssen und höchstens einen Realschulabschluss schaffen. Die Eltern sagen: Warten wir’s ab. Zu Recht. Nach der Grundschule wechselt sie aufs Gymnasium, alles ganz „normal“, nur dass sie immer in der ersten Reihe sitzen muss, weil sie sonst nicht erkennt, was auf der Tafel steht. „Eine Extrawurst“, lieber würde sie keine Extrawurst bekommen. Auf dem Schulhof scharen sich manchmal Kinder um sie. Einer ruft: „Igitt, guck mal, was die Ekliges mit ihren Augen machen kann!“

Aufbruch: Nourney hat schon als Kind gerne so getan, als wäre sie jemand anderes. Sie entscheidet sich fürs Schauspielstudium. Ihre Eltern zögern. Zum ersten Mal regen sich leise Zweifel an den Möglichkeiten ihrer Tochter. Nicht weil sie schlecht sehe, sondern weil es ein Beruf mit vielen Unsicherheiten sei. Sie bewirbt sich bei einer privaten Schauspielschule in Berlin, wird angenommen. Die Freude ist überbordend, dann kommt der Dämpfer. Einen Tag nach der Zusage ruft die Direktion der Schule an, meint, es sei unverantwortlich, sie aufzunehmen, Schulgebühren von ihr zu verlangen und doch zu wissen, dass sie niemals engagiert werde, geschweige denn davon würde leben können. Die Empörung springt ihr auch heute noch fast aus dem Gesicht.

Einsatz: Es folgt ein weiteres Telefonat, in dem Nourney den Direktor überzeugt, sie doch aufzunehmen. Ja, unter einer Bedingung, heißt es: In Nourneys Vertrag wird eine Extraklausel eingefügt: Sie hat keinen Anspruch auf einen ordentlichen Abschluss. Nourney versteht bis heute nicht, was das Problem war. „Ich sollte besser sein als die anderen, um meinen ‚Makel‘auszugleichen“, sagt sie. Egal, der Traum soll doch noch wahr werden. Sie wird Schauspielerin. Mit oder ohne Abschluss.

Drill: Das erste halbe Jahr ist das pure Glück. Das Neue ist aufregend. Dann nimmt die Ausbildung Fahrt auf, der Umgang wird härter, der Ton rauer. „Der reinste ‚Seelenstriptease‘. Es klingt abgedroschen, aber es ist genau so“, sagt sie. Sie bekommt keine Sonderbehandlung, und sie kämpft wie der Rest des Jahrgangs. Vielleicht mehr noch als die anderen. Die größte Reibung entsteht dann, wenn die Dozentinnen „Durchlässigkeit“ von ihr verlangen. „Sei durchlässig. Reiß deine Schutzmauern nieder. Nimm doch nicht immer alles persönlich. Sei du selbst. Akzeptiere dich. Du kommst so niedlich rüber. Willst du das nicht ändern? Hau auf den Tisch! So bist du nicht? Dann lerne es!“ Alles Dinge, die auch andere zu hören bekommen. Außer einem Satz, der nur ihr gilt. Als könne Nourney selbst noch immer nicht glauben, dass das wirklich jemand zu ihr gesagt hat: „Mit deinen Augen kannst du sowieso niemanden fesseln.“

Nicht gerade das Berlin, wie man es aus Filmen kennt

Konfrontation: Da ist es wieder. Sie wird auf die unruhige Bewegung ihrer Augen reduziert. Es geht nicht um ihr Können, es geht um etwas Äußerliches, Oberflächliches. Sie lässt nicht locker, beißt sich durch, am besten bis zur Perfektion. Sie ist sensibel, sie beobachtet sich, die ganze Zeit. Das strengt an. Das machen Schauspieler so, wenn sie gut sein wollen. Irgendwann steht außer Frage, ob sie den Abschluss bekommt. Die anderen Schüler und Schülerinnen des Jahrgangs stehen zu ihr. Sie warnen: Wenn Nourney ihn nicht bekommt, lehnen sie ihren ab. Im Juli 2015 ist die Zeugnisverleihung. Als sie an der Reihe ist, wird auch in diesem eigentlich feierlichen Moment ihr „Anderssein“ hervorgeholt. Noch heute ist sie enttäuscht darüber.

Freiheit: Nach der Ausbildung tauchen die großen Fragen auf: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wie geht es weiter? Nourney sagt: „Scheiß auf Work-Life-Balance. Ich will, dass mein Job mein Leben ist.“ Aber sie lernt die Phasen einer Jungschauspielerin kennen, in denen alles zusammenzubrechen droht. Es ist schwierig, Halt zu finden, wo keine Kontinuität ist, wo Angst wächst, wo sie, um sich über Wasser zu halten, manchmal auch Hartz IV beziehen muss. Sie hat Glück, die Phasen bleiben in ihrer Länge erträglich. Die Resonanz ihrer Auftraggeber auf ihre Flexibilität und ihre Leistungen ist positiv. „Dadurch, dass es mit meinen Augen sehr anstrengend ist, viel am Stück zu lesen, habe ich gelernt, schnell ganze Texte zu erfassen und fotografisch abzuspeichern. Mein Gehirn ist super schnell“, sagt sie. Sie weiß, dass ihre Schwäche auch eine Stärke sein kann.

Wende: Ihr jüngstes Werk: ein Kurzfilm. Sie zeigt ihn auf einem Computer, dessen Bildschirm zudem Touchscreen ist, weil ihre Augen Schwierigkeiten haben, die Maus zu finden. Sie navigiert schnell. Der Film heißt „Moonlight Princess“. Es geht um Menschen, die mit Albinismus leben. Für die Rolle hat sie sich ihre blonden Haare noch blonder gefärbt. Die Regisseurin wollte das so. Im Schwarz-Weiß-Film kommen die Kontraste stark zur Geltung. Ihre hellen Haare und ihre Haut leuchten, sie hat etwas Elfenhaftes. Sie findet sich schön in dem Film. Ein Wendepunkt. Sie ist stolz darauf. Sie will ihr „Anderssein“ nicht mehr um jeden Preis ablegen, sondern hervorheben. Sie will weniger „normal“ sein wollen.