Lohnerhöhung vs. Inflation

Argentinien Die jährlichen Lehrerstreiks zeigen: Das Bildungssystem krankt. Präsident Macri verspricht Hilfe – und übersieht die zentralen Forderungen

Wieder keine Schule: Lehrerstreik in Buenos Aires Foto: Victor R. Caivano/ap

BUENOS AIRES taz | Argentiniens Lehrkräfte streiken mal wieder. Beim nationalen Bildungsmarsch am Mittwoch vergangener Woche zogen rund 400.000 Lehrende durch die Straßen der Hauptstadt Buenos Aires. Ihre Forderung: eine bessere Ausstattung der öffentlichen Schulen und eine deutliche Anhebung der Gehälter über die Inflationsrate von rund 30 Prozent. Die umgerechnet 550 Euro, die LehrerInnen im Schnitt verdienen, reichen vielen nicht mehr bis zum Monatsende.

Argentiniens öffentliches Schulsystem hat seinen guten Ruf schon lange verloren. Jahrzehntelang blickten die Nachbarländer neidvoll Richtung Río de la Plata. Die Pisa-Studie von 2015 stellte Argentinien ein so schlechtes Zeugnis aus, dass sie von der OECD als nicht repräsentativ eingestuft wurde. Lediglich die Ergebnisse der Hauptstadt Buenos Aires wurden anerkannt. Noch immer gelten deshalb die Resultate von 2012, bei denen Argentinien um den 60. Rang pendelt – und damit bei insgesamt 65 teilnehmenden Ländern fast Schlusslicht ist.

Die öffentlichen Bildungseinrichtungen erleben nicht erst unter dem konservativen Präsidenten Mauricio Macri einen Niedergang. Seit Jahren werden marode Schulgebäude nicht renoviert. Im Winter fällt regelmäßig der Unterricht aus, weil die Heizungsanlagen streiken. In den Zeitungen sieht man Fotos, auf denen Schulkinder in dicken Jacken dem Unterricht folgen, weil die Schule die Gasrechnung nicht bezahlen konnte.

Jährliches Drama

Ob die Schule nach den großen Sommerferien Anfang März tatsächlich beginnt, ist ein sich alljährlich wiederholendes Drama. Oftmals wird der genaue Schulbeginn erst wenige Wochen im Voraus bekannt gegeben. Wobei das noch lange keine Garantie dafür ist, dass an dem Tag auch tatsächlich eine Lehrkraft da ist. Meist streiken die Lehrkräfte dann noch für eine bessere Entlohnung. Bisher hat sich die Gewerkschaft noch immer mit dem jeweiligen Bildungsminister geeinigt. Ähnlich wie in Deutschland sind im föderalen Argentinien die Provinzen für Bildung zuständig.

Wozu das führt, sieht man in der Provinz Buenos Aires: Auch in der vierten Schulwoche stehen sich Gewerkschaften und öffentlicher Arbeitgeber noch immer unversöhnlich gegenüber. Während die Gewerkschaften eine 35-prozentige Lohnanhebung fordern, bietet die Provinz lediglich 18 Prozent mehr. Es ist normal, dass in einigen Provinzen auch dann noch gestreikt wird, wenn woanders schon wieder unterrichtet wird.

Im Brennpunkt stehen stets die Provinz Buenos Aires und die gleichnamige autonome Hauptstadt. Hier leben drei Viertel der argentinischen Bevölkerung, und gut ein Drittel der landesweit eine Million Grundschullehrkräfte sind hier beschäftigt. Der diesjährige Konflikt hat aber ein zusätzliches Hindernis: Präsident Macri will nicht, dass die Tariferhöhungen über der Inflationsrate liegen. Und die hat die Zentralregierung für 2017 auf 18 Prozent prognostiziert. Entsprechend richtungsweisend ist der Arbeitskampf in der Provinz Buenos Aires. Um zu zeigen, wie ernst sie es meinen, lassen die Lehrer regelmäßig den Unterricht ausfallen. In dieser Woche sollen am Donnerstag die Schulen leer bleiben.

Die Defizite des nationalen Bildungssystems müssten der Regierung bewusst sein. Im Oktober 2016 hat sie rund 1,4 Millionen SchülerInnen prüfen lassen. An den öffentlichen Schulen zeigten 55 Prozent der SchülerInnen schwache Leistungen bei Sprachen und Mathematik. An den Privatschulen schnitten sie mit 30 Prozent deutlich besser ab. Wenig verwunderlich angesichts der Vernachlässigung des öffentlichen Bildungssektors. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder ohnehin auf Privatschulen. Allein im Jahr 2016 wechselten rund 20.000 SchülerInnen auf Privatschulen. In den letzten 15 Jahren waren es fast 450.000.

Dennoch gab sich Präsident Mauricio Macri überrascht und kommentierte die Ergebnisse als „schreckliche Ungleichheit“ zwischen denen, die auf eine Privatschule gehen und denen, die auf einen öffentliche Schule müssen. Der Präsident hat einen „Plan Maestro“ angekündigt, der eine „wahre Bildungsrevolution“ einleiten soll. Demnach soll bis 2026 der tägliche Unterricht um zwei Stunden verlängert werden. Gleichzeitig sollen Schulabgänge ohne Abschluss um 70 Prozent zurückgehen.

Wovon die maroden Schulgebäude saniert und die Lehrkräfte besser entlohnt werden sollen, darüber verliert der Plan kein Wort. Jürgen Vogt