Ein kanadischer Traum

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätten die Frauenbeauftragte und der Verantwortliche für Minderheitenschutz nach langen Verhandlungen eine gemeinsame Personalentscheidung getroffen. Bei der Besetzung des Postens des amtierenden kanadischen Staatsoberhaupts wurde auf alles geachtet: Michaëlle Jean lebt im französischsprachigen Teil des überwiegend englischsprachigen Landes, stammt aus Haiti und ist eine Frau. Ab heute ist sie kanadische Generalgouverneurin und damit formal gesehen Oberbefehlshaberin der Truppen des Nato-Landes.

Die 48-jährige ist für das Amt der Generalgouverneurin ungewöhnlich jung. Insbesondere im Kontrast zu ihrer künftigen Chefin, der englischen Queen Elizabeth II. (79). Da Kanada Mitglied im Commonwealth ist, ernennt das englische Königshaus einen Vertreter als Repräsentant der Krone vor Ort. Vorgeschlagen wurde Jean freilich nicht von Elizabeth II., sondern vom kanadischen Premierminister Paul Martin. Und der hat offenbar ein Gespür für die Zeichen der Zeit. Der liberale Spitzenpolitiker hat mit Jean ein Lehrbeispiel für eine erfolgreich verlaufende Einwanderung ins Rampenlicht gerückt. Als Flüchtlingskind repräsentiert sie vor allem die 5,4 Millionen Kanadier – fast 20 Prozent der Bevölkerung – die außerhalb des Landes geboren wurden. Insbesondere die inzwischen angeschlagenen Liberalen, die einen sozialen Anspruch pflegen und seit 1993 an der Macht sind, haben es verstanden, die Einwanderer aus 200 ethnischen Gruppen zu integrieren. Bisher stand mit Adrienne Clarkson eine ehemalige Hongkong-Chinesin im Dienste der Queen an der Spitze Kanadas. Durch die Einberufung der Frankokanadierin Jean könnten nun außerdem die separatistischen Tendenzen der französischsprachigen Provinz Quebec geschwächt werden.

Seit sie als Elfjährige 1968 in Quebec ankam, arbeitet Jean an der Verwirklichung dessen, was beim großen Nachbarn der amerikanische Traum genannt wird: Dem Italienisch- und Spanischstudium folgte die Lehrbefugnis an der Universität Montreal, dem Engagement in der Frauenarbeit folgten ausgezeichnete Arbeiten für Radio- und Fernsehsender.

In Quebec ist Jean ein Star, doch auch in den englischen Provinzen populär. Der auflagenstarke Toronto Star findet sie gar „inspirierend“. Diese Popularität könnte ihr noch lange erhalten bleiben. Die meisten Kanadier wissen um den eingeschränkten realpolitischen Einfluss einer Generalgouverneurin. Unpopuläre Verordnungen wird man ihr kaum zur Last legen. Das wäre den Kanadiern angesichts dieser mustergültigen Personalentscheidung wahrscheinlich auch zu schade.

HANNES HEINE