Hinter dem großen Gefühl

Premierenmarathon in Berlin: „Sophies Choice“ an der Deutschen Oper, Verdis „Forza del destino“ an der Staatsoper und „Madame Butterfly“ an der Komischen Oper

Freudig erwarteten Lokalpresse und Premierenpublikum einen Skandal. An der Staatsoper kam es auch fast dazu – immerhin!

Kein vernünftiger Mensch versteht, warum die drei Berliner Opern unbedingt an einem einzigen Wochenende ihre Premieren haben müssen. Die Opernstiftung, von der man sichtlich zu Unrecht vermutet hatte, sie schaffe etwas Ordnung in den Spielplänen, hält es für einen großartigen Auftakt der Saison. Irgendein thematischer Zusammenhang, über den sich berichten und vielleicht auch streiten ließe, ist jedoch nicht erkennbar. Nur die Lokalpresse freute sich schon eine ganze Woche zuvor auf den garantierten Skandal am Sonntag, wenn an der Komischen Oper wieder das Sextheater von Calixto Bieto öffnet.

Natürlich gab es diesen Skandal nicht. Bieto ist ein politisch überaus korrekter Mensch, der uns auf die ziemlich offensichtliche Tatsache hinweist, das der Stoff von Puccinis „Madame Butterfly“ ein eklatanter Fall von Sextourismus und Ausbeutung der Dritten Welt ist. Deshalb steht ein hübsch buntes Plastikbordell auf der Bühne, und das große Duett zwischen dem Amerikaner Pinkerton und seinem japanischen Freudenmädchen ist auch wirklich ein Liebesakt. Mehr aber ist nicht, es wird ordentlich gesungen (Marc Heller und Juliette Lee in den Hauptrollen), ordentlich gespielt unter dem jungen Dirigenten Daniel Klajner, und am Ende wird Bieto dennoch brav ausgebuht, weil man ihm seine sadistische „Entführung aus dem Serail“ der vorletzten Saison partout übel nehmen will. Doch was bei Mozart eine innere Dimension des Werkes erschloss, wird bei Puccini zur Fessel. Mag sein, dass Bietos Misstrauen gegen das bloß emotionale Unglück dieser jungen Frau berechtigt ist; ein lediglich „ökonomisches Verhältnis“, wie Bieto meint, hat Puccini aber dennoch nicht komponiert. Dass im oft arg süßen Wohlklang der großen Arien nur die Sehnsucht nach höherem Lebensstandard aufklingen soll, ist nicht zu hören. Zu sehen ist es auch nicht, und so schleicht sich gelegentlich schiere Langeweile in diese stur vor sich hin marschierende Demonstration einer politischen These.

Dennoch ist Bietos „Butterfly“ ein sehenswerter Beitrag zur ewig währenden Debatte, was denn nun große Oper heute sei. Wenn sie denn stattfände. Vorerst verhindert die pure Intendantenlaune die ästhetischen Bezüge, die mit Bewusstsein herzustellen wären. Am Freitag hatte die Deutsche Oper den Premierenmarathon mit „Sophies Choice“ von Nicholas Maw eröffnet: eine Koproduktion im Rahmen ihrer „Tage des zeitgenössischen Musiktheaters“. Drei Opern hat die Stadt, aber noch immer ist es nötig, neuen Werken eigene „Tage“ zu widmen. Wann endlich geht diese Provinz zu Ende? Maw hat einen (erfolgreich verfilmten) Roman um eine Überlebende von Auschwitz zu einer Art musikalischer Leberwurst verarbeitet. Alles möglichst scharf gewürzt und klein gehackt – was genau es ist, möchte man lieber nicht wissen. Wenn es nicht so schrecklich gut gemeint wäre, läge sogar der Skandal der Verharmlosung in der Luft. So aber applaudiert man erschöpft dem tapferen Ensemble, das sich zweifellos alle erdenkliche Mühe gab.

Fast zu einem Skandal, dem so freudig erwarteten, kam es am anderen Tag an der Staatsoper. Empörte Premierenbesucher forderten lautstark, man möge endlich mal Verdi spielen: kein gutes Zeugnis für die Sachkunde des Berliner Publikums, das offenbar dringend den Nachhilfeunterricht sinnvoller Spielpläne nötig hat. Denn selten dürfte mehr und genauer Verdi gespielt worden sein als unter Michael Gielens unendlich sorgfältiger, in jeder Temponuance durchdachter Aufführung der „Forza del destino“. Auch der junge norwegische Regisseur Stefan Herheim möchte die Realität des gesungenen Gefühls enthüllen, nur findet er sie gerade nicht in der ökonomischen Basis. Sein Wegweiser durch die reichlich abstruse Handlung des Librettos ist die psychoanalytische Traumdeutung. Unmögliche Begierde, Familienbande, religiöser Wahn und Kriegsgeschrei gerinnen zu surrealistischen Einzelbildern, die weit beunruhigender sind als Bietos Lehrstück über die Ausbeutung der Seele. Es ist die dem Willen entzogene Mechanik des Traums, die vor allem in den großen Arien der Leonore erklingt. Norma Fantini singt sie mit souveräner Meisterschaft, und im Applaus für sie ging dann auch das Gebrüll der Berliner Skandalnudeln unter.

NIKLAUS HABLÜTZEL