Pute mit Pope

Premiere Barrie Kosky hat an der Komischen Oper versucht, das Fragment „Der Jahrmarkt von Sorotschinzi“ von Modest Mussorgski zu inszenieren. Es gelang ihm nicht, aber Henrik Nánási dirigiert die Musik sehr gut

Agnes Zwierko als böse Ehefrau, wie sie gerade die Pute stopft und von ihrem Liebhaber schwärmt Foto: Monika Rittershaus

von Niklaus Hablützel

Es soll und muss deftig zur Sache gehen in diesem Stück, das fast nie aufgeführt wird, weil ihm dafür so gut wie alles fehlt. Der geniale, aber alkoholkranke Mussorgski hat jahrelang daran gearbeitet. Seine Skizzen waren so radikal, dass es sogar seinen Freunden davor gegraust hat. Fertig geworden ist er nie.

Kosky liebt solche Abenteuer. Die paar original überlieferten Bruchstücke können nur mit Ergänzungen anderer Komponisten überhaupt zusammengesetzt werden. Er hält sich an eine russische Fassung aus den 30er Jahren, fügt zusätzlich Lieder von Mussorgski ein und bleibt wie immer sehr nah am Stoff. Er nimmt ihn beim Wort und so entstehen mitunter Szenen von bezwingender, grotesker Komik. Jens Larsen und Tom Erik Lie etwa stecken sturzbesoffen im selben Mantel, was die beiden zu einem akrobatischen Slapstick-Strip zwingt. Später muss Agnes Zwierko als zanksüchtige Ehefrau Ivan Turšic, ihren Liebhaber, den Sohn des Dorfpopen, vor den beiden Suffköppen verstecken, die zu früh in ihre Küche kommen. Wohin mit ihm? Sie stopft ihn kopfüber in den Putenbraten, wo er dann für immer neue Verwirrungen sorgt. Der gerupfte Teufelsbraten scheint zu leben, bewegt sich hin und her auf dem Tisch, bis er im rauchenden Backofen verschwindet. Braun geröstet und immer noch rauchend kehrt er in Versammlung des Dorfes zurück: Das ist ganz sicher Gogols Geist, auf dessen Erzählungen aus dem (ukrainischen!) Dorf Mussorgski seine komische Volksoper aufbauen wollte.

Nur blitzt er nur auf und vergeht dann wieder. Die Hauptrolle spielt ohnehin der Chor, für den Mussorgski sein berühmtes Klavierstück „Die Nacht auf dem kahlen Berge“ umgeschrieben und instrumentiert hat – auf seine handfeste Art der Verletzung sämtlicher Regeln seiner Zeit. Die Orchesterfassung ist bis heute ein Hit in den Konzertsälen der Welt, mit Chor klingt der Hexensabbat für Instrumente etwas gedämpfter. Die Stimmen des Chores bremsen die Orgien aus, weil sie von der Angst des Dorfes singen, in dem ein Teufel umgeht. Großartige Musik ist das, die weit in das 20. Jahrhundert vorausweist. Unter Henrik Nánásis Leitung spielt sie das Orchester genau so, wie man sie spielen muss: nicht zu laut und nicht zu schnell, immer darauf bedacht, alle Einzelteile des chaotischen Kaleidoskops erkennbar aufklingen zu lassen. Und die Leistung der Chöre ist schlichtweg bewundernswert. Die Chorsolisten, der Kinderchor und das Vocalconsort Berlin verschmelzen nie zur bloßen Klangmauer, immer hat man des Gefühl, Individuen zu hören, die nun mal in ihrem trostlosen Dorf zusammenleben, singen, tanzen, saufen, fressen, ficken und ständig Angst haben vor bösen Geistern.

Um diese Angst zu zeigen, schiebt Kosky mehrfach lange Generalpausen ein, in denen der Chor zum Standbild erstarrt. Plötzlich, ohne erkennbaren Grund, schreien die Stimmen auf und rennen davon. Das ist nicht schlecht, aber es reicht nicht, weil es Episode bleibt. Ausgerechnet für diesen grandiosen Chor ist dem Regisseur sonst sehr wenig eingefallen. Er schiebt ihn auf der leeren Bühne hin und her, minimal choreografierte Gruppen bilden sich heraus, aber dann stehen sie doch wieder alle in Reih und Glied an der Rampe.

Großartige Musikist das, die weit indas 20. Jahrhundert vorausweist

Katrin Lea Tag hat das Bauernvolk in Trachten und Anzüge gekleidet, die ein wenig an russische Folklore erinnern, vor allem aber dunkel und brav aussehen. Die Teufel auf dem kahlen Berg stecken in Schweinemasken, aber warum sie gerade in ihrer Nacht der Nächte ganz hinten auf der Bühne ruhig und friedlich an einer üppig gedeckten Abendmahls-Festtafel sitzen bleiben müssen, ist schwer zu begreifen.

Mirka Wagner und Alexander Lewis, der einzige Gast dieser Produktion, spielen ein Liebespaar, das sich gegen Agnes Zwierkos böse Frau mit ihrem gebratenen Popen durchsetzen muss. Sie singen ihre Rollen sehr schön, wirken dabei aber doch nur wie weitere Ruhepunkte, die dem seltsam starren Theaterspiel erst recht kein Leben einhauchen können. Das mag auch daran liegen, dass es schon Mussorgski nicht gelang, eine so konventionelle Spielhandlung in die sprunghafte, mit disparaten Elementen vermeintlicher und echter Volksmusik versetzte Konzeption seines letzten Bühnenwerkes zu integrieren. Auch Kosky konnte daraus kein Theaterstück machen, aber die zwei Stunden pausenloser Spieldauer seines gescheiterten Berliner Versuchs waren nicht umsonst. Denn Henrik Nánási gelingt es, ein außerordentliches Stück Musik zu erschließen, dessen bizarre Schönheit alle Schlaglöcher des Theaters ausfüllt. Schade, dass es seine letzte Produktion als Chefdirigent ist. Er verabschiedet sich mit einem wunderbaren Geschenk an sein Publikum.

Nächste Vorstellungen: 9., 14., 22. April, 13. Mai 2017