Nichts verstanden

Missbrauch Die letzte Opfervertreterin ist raus. Doch der Vatikan will seine Kommission zur Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirche weiterarbeiten lassen

Austritt: Die Irin Marie Collins war die letzte Opfervertreterin in dem Gremium Foto: A. Bianchi/reuters

von Philipp Gessler

Es ist eine Sache, einen Fehler zu machen. Es ist eine andere, diesen Fehler nicht korrigieren zu wollen – ja zu betonen, dass es am Ende gar kein Fehler gewesen sei.

Im Vatikan ist derzeit zu beobachten, wie man genau das versucht: das eigene Versagen zu vertuschen – und dann frech zu behaupten, es sei gar kein Versagen. Und es geht dabei, was kein Zufall ist, um den jahrzehntelangen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der ganzen Welt. Dieser Skandal trifft die katholische Welt­kirche dermaßen ins Mark und beschädigt das Selbstbild so sehr, dass der Vatikan schlicht unfähig und de facto unwillig ist, grundsätzlich etwas dagegen zu tun. Allen Lippenbekenntnissen zum Trotz.

Der jüngste Beleg für dieses Desaster: Die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen hat mitgeteilt, dass sie weiterarbeiten will – obwohl ihr nun keine Vertreterin, kein Vertreter von Missbrauchsopfern mehr angehört. Es würden „neue Wege“ gefunden, um sicherzustellen, dass die Arbeit der Kommission weiterhin von den Betroffenen geprägt werde. Das Ganze ist so zynisch, dass es einem den Atem raubt.

Die letzte Opfervertreterin, die Irin Marie Collins, hatte Anfang des Monats unter Protest die Kommission verlassen. Schon zu Beginn des vergangenen Jahres hatte der Brite Peter Saunders, ebenfalls ein Vertreter der Opfer, in dem damals 18-köpfigen Gremium die Brocken hingeschmissen. Die Tatsache, dass die Kommission nun glaubt, auch ohne Opfervertreter auskommen zu können, zeigt, dass man in der römischen Kurie offenbar nichts verstanden hat. Wie es nicht zuletzt Pater Klaus Mertes sagt, der die Aufarbeitung vor einigen Jahren in Deutschland wesentlich angestoßen hat: Die Opfer des Missbrauchsskandals zeigen die Kirche so, wie sie sich selbst sehen muss, wenn sie diesen Skandal moralisch überleben will. Die schmerzhafte Sicht und das direkte Wort der Opfer müssen in diese Kommission. Sonst ist sie wertlos.

Wer jemals mit Opfervertretern zu tun hatte, weiß, dass manche von ihnen gelegentlich nerven können – aber genau das ist ihre Aufgabe: Sie müssen einer, gerade in Rom, satten und selbstzufriedenen Institution die Leviten lesen. Vielleicht sind sie so etwas wie Prophetinnen und Propheten des Heute. Denn wie ihre Brüder (und Schwestern) des Alten Testaments legen sie die Finger in die Wunde. Und werden von vielen scheinbar frommen Verteidigern der wahren Lehre dafür gehasst. Dabei sollte die Kirche vielmehr allen Opfern dankbar sein, die noch bereit sind, in kirchlichen Gremien zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals tätig zu werden. Denn diese Bereitschaft zur Mitarbeit deutet ja an, dass für sie die Kirche nicht vollends gestorben ist – eine mögliche Reaktion, die angesichts ihres Leidens völlig nachvollziehbar wäre.

Das skandalöse Weiterwurschteln der Kommission auch ohne Opfer zeigt, dass Papst Franziskus seinen Laden nicht mehr im Griff hat

Das skandalöse Weiterwurschteln der Kommission auch ohne Opfer des Missbrauchs zeigt auch, dass Papst Franziskus seinen Laden nicht mehr wirklich im Griff hat – oder der Aufarbeitung dieses Gebirges von weltweit begangenenen Verbrechen offensichtlich nicht die Priorität einräumt, die sie verdienen würde. Schon Anfang vergangenen Jahres hatte Peter Saunders gefordert, dass die Kommission mit unabhängigen Fachleuten besetzt werden müsse, wenn es die Kirche wirklich ernst meine. Doch wie in jeder großen und alten mächtigen Institution ist die Versuchung zu groß, den Kopf in den Sand zu stecken. Es fehlt in Rom an dem Mut, sich selbst infrage zu stellen – und die wenigen Stimmen, die dies in der Weltkirche lauthals fordern, sind zu leise.

Wahrscheinlich wird es auch in diesem Fall so enden wie so häufig in der Kirchengeschichte: Wer eine Umkehr, eine Reform fordert, wird so lange ignoriert oder bekämpft, bis seine oder ihre Stimme verhallt ist. Ein paar Jahrhunderte später kann man sich dann darauf berufen, dass es in einer Zeit des Irrwegs der Kirche auch kritische Stimmen gab.

Die Vertreterinnen und Vertreter der Opfer weisen der Kirche einen Weg, wie sie in Wahrheit und Buße wieder näher an die Botschaft Jesu kommt. Warum ist es eigentlich in der Kirche oft so peinlich, an Jesus von Nazareth zu erinnern?