Trip Das gute Leben in Frankreich, dann kommt die Polizei: der Vater ein Hochstapler, die Flucht mit der ganzen Familie quer durch Europa. Arno Franks Jugend war ein Roman, jetzt hat er ihn geschrieben
: „Es ist taktlos. Aber ich darf das“

Arno Frank, fotografiert im Innenhof des taz-Gebäudes an der Rudi-Dutschke-Straße, Berlin

von Jan Feddersen, Ulrich Gutmair
(Gespräch) und Anja Weber (Foto)

Arno Frank hat lange als Redakteur für die taz gearbeitet. Vor sechs Jahren verließ er das Blatt und zog nach Wiesbaden. Dieser Tage erscheint sein Roman „So, und jetzt kommst du“. Frank erzählt darin die Geschichte einer Familie auf der Flucht. Der Vater hat Geld unterschlagen, die Familie flieht eines Nachts nach Frankreich und genießt das gute Leben – bis auch dort die Polizei vor der Tür steht. Wieder werden nachts die Koffer gepackt. Wir trafen Arno Frank in der taz, um über sein Buch zu sprechen.

taz.am wochenende: Arno Frank, „Und jetzt kommst du“ ist dein erster Roman, laut Klappentext eine „wahre Geschichte“. Es ist die Geschichte deiner Familie. Wie kamst du dazu, sie aufzuschreiben?

Arno Frank: Anlass war eine Geschichte für das Magazin Dummy. Oliver Gehrs, der Chefredakteur, meinte, sie würden ein Heft zum Thema „Abenteuer“ machen: „Du hast doch bestimmt ein Abenteuer erlebt.“ Da hat es „klick“ gemacht. Da war eine Geschichte, die schon lange sagte: „Erzähl mich mal. Wenn du die Mittel hast und die Zeit: Du musst mich erzählen. Das schuldest du mir.“

In diesem Augenblick war es so weit?

Ich habe ihm den Plot geschildert, und Gehrs sagte: „Du hast so viel Platz, wie du willst, aber morgen Mittag musst du fertig sein.“ Ich habe mich nachmittags hingesetzt und das dann einfach gemacht. Über die Jahre hatte ich bestimmt sechs oder sieben ernsthafte Anläufe genommen und immer abgebrochen, weil mir das Ergebnis zu prätentiös, zu blöd erschien. Aber dieser Punk-Ansatz, dieses: Spring! hat funktioniert. Plötzlich war die Geschichte aufgeschrieben. Einfach aufhängen, trocknen lassen und schauen, was da eigentlich ist. Und so klappte es dann auch auf der Langstrecke.

Es ist auf merkwürdige Weise passend, dass „Abenteuer“ das Stichwort war, das den Anstoß gab. Die Eltern verkaufen den Kindern die Flucht vor den Gläubigern und der Polizei, die du im Roman erzählst, als Abenteuer.

Und ich hoffe, dass es sich auch so liest. Das war die einzige echte Herausforderung beim Schreiben: Den Leser durch den ersten Teil zu führen, die Kindheit im Deutschland der Achtziger. Und dann sind wir in Frankreich, es ist wie ein Traum. Es könnte immer so weitergehen. Aber es müssen die ersten Risse spürbar werden.

Eines Nachts wecken die Eltern die Kinder auf. Sie sollen das Notwendigste packen, dann geht es los, in den „Urlaub“.

Tatsächlich ist es ein neues Leben. Der Vater hat Geld unterschlagen, damit setzt sich die Familie nach Südfrankreich ab. Sonne, Palmen, Strand. Es ist wunderbar, bis das Geld zur Neige geht und Interpol vor der Tür steht. Hier könnte es zu Ende sein, aber die Flucht geht weiter. Quer durch Europa bis nach Lissabon, ein Leben im Untergrund. Und immer in Angst, von der Polizei entdeckt zu werden.

Man darf einen Roman, auch wenn er eine autobiografische Geschichte erzählt, nicht eins zu eins dem Autor zurechnen. Trotzdem: Deinen Roman dir persönlich zuzurechnen, ist unvermeidlich.

Klar, ich hätte die Geschichte noch mehr verfremden können. Die Begriffe „Memoir“ und „autofiktional“ habe ich erstmals von meinem Verleger gehört. Es ist keine Biografie und keine Sozialreportage. Sondern ein Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht. Beim Schreiben habe ich trotzdem viel über Erinnerungen gelernt. Was erinnere ich? Wie genau muss das sein? Wie führe ich die Geschichte, wann gehe ich raus? Ein anderes Ende wäre auch möglich gewesen.

Die Erinnerungen spielten sich dir während des Schreibens zu?

Vieles passierte erst während des Schreibens. Das war wie ein Keller, aus dem ich mir die Kisten heraufhole. Ich habe tatsächlich eine Kiste mit Fotos von damals – die haben mich beeinflusst. Und weil es diese kleine Schwester aus dem Roman wirklich gibt, konnte ich sie anrufen und aus ihren Erinnerungen schöpfen. Sie hat Dinge beigesteuert, Namen und Details und sogar Träume, die ich seinerzeit entweder nicht mitbekommen oder vergessen habe. Sie war meine wichtigste Ratgeberin.

Die Schwester des Ich-Erzählers ist die heimliche Heldin des Buchs.

Mir ist das passiert, was ich für Germanistenkitsch gehalten hatte: Die Figuren entwickeln ein Eigenleben, man muss ihnen nur noch hinterherschreiben und so weiter. Das ist tatsächlich passiert. Die kleine Schwester kommt ganz leise in die Erzählung hinein, unmerklich und beiläufig – und wird im Verlauf der Geschichte immer wichtiger.

Wie konnte es dazu kommen, dass die Schwester am Ende die Handelnde wird?

Sie ist sieben Jahre alt und leidet am meisten unter der bizarren Situation. Und irgendwann fing ihre Figur an, sozusagen autonom zu handeln. Das war der Punkt, an dem ich Nächte durchgeschrieben habe. Weil die Figur so handeln wollte, wie sie es aus ihrer inneren Logik heraus tun musste. Das war abenteuerlich. Ich schreibe gern. Man hat Glückserlebnisse beim Schreiben. Aber so stark habe ich das noch nie empfunden. Phasenweise war das wie eine Séance.

Als die Schwester noch klein ist, macht sie Experimente mit organischen Verwesungsprozessen in Marmeladengläsern, als würde sie schon spüren, dass etwas nicht stimmt. Später gibt sie den Anstoß, sich aus der Stockholm-Syndrom-Situation zu befreien.

Ja. Sie ahnt alles. Und sie beendet es.

Sie nimmt die Last des Verrats auf sich.

Das ist exakt, was sie tut. Sie hebt damit den viel größeren Verrat der Eltern auf. Von einem Bildungsroman würde ich erwarten, dass der Protagonist irgendwann alt genug wird, die Verhältnisse erkennt und es mit dem übermächtigen Vater aufnimmt. Aber das tut er hier nicht. Sie macht es. Beim Schreiben tauchte dieses Mädchen einfach auf, zog an mir vorbei. Und dann war sie vor mir.

Beim Lesen scheint es, als fandest du die Schwester erst mal nur doof.

Die fand ich doof. Und den Bruder auch.

Den Bruder fandest du aber weniger doof.

Er ist ein Baby: Mit dem hatte ich nichts zu tun.

So eine Schwester hätte ich auch gern gehabt.

Ja, tolle Schwester. Überhaupt: gute Geschwister. Es ist auch ein Familienroman.

Eine alternative „Drombusch“-Geschichte?

Umgekehrte „Drombuschs“ vielleicht. Wie „Der Kirschgarten“ von Tschechow, nur ohne Kirschgarten. Oder ein Roadmovie wie „Die innere Sicherheit“ von Christian Petzold. Mit Paranoia, aber ganz ohne RAF. Es ist eben keine großbürgerliche Geschichte, in der sich die Eltern gegen den Verfall der Familie stemmen. Es geht eher um Wohlstandsverwahrlosung. Kleinbürgerliche Eltern, die mutwillig alle Brücken hinter sich verbrennen.

Der Vater ist der Schurke der Geschichte. Ein Hochstapler, und damit ein Geschichtenerzähler. Ist das womöglich das gute Erbe, das du von ihm bekommen hast: die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen?

Ich würde ihn nicht als begnadeten Geschichtenerzähler beschreiben. Er kommt halt damit durch vor seinem kleinen Publikum, er ist ein In-Aussicht-Steller. Das ist etwas anderes. Er ist jemand, der dir einen Katalog zeigt und fragt: „Willst du diese Jacht? Oder lieber die andere hier?“

Das Romandebüt

Der Mensch: Arno Frank, 1971 in Kaiserslautern geboren, studierte Kunstgeschichte und Philosophie, ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München und war elf Jahre Redakteur bei der taz. Seit 2011 lebt er als freier Autor in Wiesbaden.

Das Buch: „So, und jetzt kommst du“ ist beim Verlag Klett-Cotta erschienen. Frank erzählt darin die Geschichte seiner Familie: Eine Flucht von der Pfalz bis nach Lissabon, weil der Vater ein Hochstapler ist. Eine Geschichte, die wie ein Abenteuer beginnt und zum Albtraum wird.

Aber wenn du Leute manipulieren willst, musst du eine Story erfinden, die mit den unbewussten Bedürfnissen deines Gegenübers spielt.

Stimmt. Der Hochstapler will ein anderer sein. Er hat einen wölfischen Instinkt dafür, was die Leute in ihm sehen könnten. Und das gibt er ihnen dann. Aber Hochstapler, das klingt für mich nach Felix Krull, darauf liegt ein Glanz. Der Vater in meinem Roman ist nur ein kleiner Ganove. Er kann nicht zaubern, nur tricksen. Ein Gaukler.

Der dich hochgradig fasziniert hat.

Schon. Du musst auch dem Gaukler auf den Leim gehen. Er spricht fließend Französisch und Englisch, er macht diese tollen Geschäfte, sieht gut aus. Er ist der Vater, du willst sein wie er. Und hier lauert das Grauen: Wenn du merkst, dass da nichts ist.

Im Englischen gibt es den Ausdruck des Skitters. Der Vorstadtangeber, der im fliederfarbenen Anzug und weißen Schuhen in die Disko geht und sagt: „Licht, hier!“ So erscheint auch die Figur des Vaters. Er musste sich für nichts rechtfertigen.

Nein, nie. Man könnte ihn auch einen Hallodri nennen. Ein Hedonist, den seine Begierden verschlingen. Seine leichtfertige Haltung ist auch eine Reaktion auf den Zeitgeist, dieses: „Du kannst das auch alles haben!“ Da sagt er sich dann: „Ach ja? Gut, dann nehme ich es mir!“

Die Vaterfigur ist einerseits geprägt von der Idee, dass „jeder es schaffen kann“, andererseits von der tendenziell rebellischen Frage: „Wozu soll ich mich kaputt malochen? Von Arbeit ist noch keiner reich geworden.“ Er nimmt beides ernst, und dabei kommt nur Elend heraus.

Stimmt, dieser Vater entzieht sich dem gesellschaftlichen Rattenrennen. Anstatt aber gar nicht zu rennen, was okay wäre, sucht er eine Abkürzung zur Kohle. Es winkt ja immer dieses Versprechen von Glück, das sich mit Geld kaufen lässt. Das ist die Ideologie nicht nur dieser Zeit. So etwas wie eine Familie ist da schon von anderer Qualität, aus seiner Sicht ein Hindernis.

Vielleicht wollte er diesen Klotz am Bein haben.

Es ist paradox. Aber für einen Hochstapler gibt es keine bessere Tarnung als genau diesen Klotz. Schau, ich habe eine bezaubernde Frau, drei brave Kinder, zwei süße Hunde … wie sollte ich dich bescheißen wollen? Der Witz und die Tragik ist, dass er in Wahrheit alle bescheißt, sogar sich selbst.

Der Junge, der uns die Geschichte erzählt, bekommt von einem fremden Ehepaar in Portugal eine Kassette von Simon & Garfunkel geschenkt, „The Concert in Central Park“. Die Begegnung mit diesen Leuten verändert ihn komplett.

Dieses Paar und diese Musik geben ihm den zusätzlichen Sauerstoff, das Leben auf der Flucht weiter zu ertragen. Es ist die feierliche Andeutung eines besseren Lebens. Ich habe diese Aufnahme noch zu Hause, mit dem Aufdruck „cassette de longa duração“. Die habe ich immer in Ehren gehalten. Der Vater findet die Musik übrigens „schwul“.

In den Eltern spiegelt sich noch der amerikanische Mythos des Freiheitssuchers: „Wir wollen uns nicht ins Provinzleben integrieren, wir wollen raus.“

Genau, dieser rebellische Mythos ist irgendwann auch im Pfälzischen angekommen. Den Ausbruch kann man wagen, das ist legitim. Es kann aber auch scheitern. Es ist möglich, dass du direkt hinter der Dorfgrenze vom Pferd fällst. Davon sollte man auch erzählen können.

Der Vater ist ein Hallodri. Aber auch die Mutter ist den Kindern nicht sehr zugewandt. Ist sie nicht eine Komplizin dieses Vaters?

Alle sind Komplizen. Wer kein Komplize ist, gehört nicht zur Familie.

Der Vater wird immer von der Mutter unterstützt. Sie deckt ihn. Es gab viele junge Frauen in den Sechzigern, die gar keine Lust auf einen Prinzen hatten.

Genau, die stärksten Figuren sind die Frauen. Bei mir sind es aber die Großmütter und die Enkelinnen. Es ist nicht die Mutter. Sie liebt zu sehr, bis zur Hörigkeit. Im Roman deutet sich ein lesbischer Ausweg an, aber den beschreitet sie nicht. Sie bleibt ihrem Mann ausgeliefert, weil sie das so will. Es wäre nicht richtig gewesen, sie als emanzipierte Frau zu zeichnen. Die Großmutter liest Simone de Beauvoir, die Mutter lieber Bunte. Und der Vater ist einer, der auszieht, um sich zu holen, von dem er ausgeht, dass es ihm einfach zufallen wird. Deswegen auch dieser Sehnsuchtsort: Südfrankreich.

Warst du noch einmal dort?

Ja. Schauen, ob es sich noch immer so schlimm anfühlt. Aber es berührt mich nicht mehr. Ich habe auch das portugiesische Hotel besucht, in das wir von Frankreich aus geflohen waren. Das gibt es noch, wunderbare Aussicht über Lissabon. Aber keine Dämonen, wie auch das Buch hoffentlich nichts Therapeutisches oder Larmoyantes an sich hat. Ihr habt euch nicht gelangweilt beim Lesen, oder?

Ist das eine ernst gemeinte Frage?

Ja.

Was das Leben macht

„Ich hätte gar nicht die Chuzpe gehabt, mir das alles auszudenken“

Uns hat das Buch sehr gut gefallen. Aber habt ihr Geschwister euch jemals gefragt, ob man diese Geschichte überhaupt erzählen soll?

Meine Mutter hat mich immer gedrängt, diese Geschichte mal aufzuschreiben: „Aber ehrlich“, hat sie gesagt. Nach ihrem Tod konnte ich diesen Wunsch erfüllen. Meine Geschwister waren über die Fortschritte beim Schreiben immer auf dem Laufenden. Sie waren Zuträger und auch die Einzigen, vor denen ich mich zu verantworten hatte. Ohne ihren Zuspruch hätte ich den Roman nicht schreiben können. Es ist auch ihre Geschichte. Wir sind die Familie.

Welche Folgen hatte die Geschichte für deine Geschwister?

Die kleine Schwester hat es am heftigsten erwischt. Es hat Jahre gedauert, bis sie sich gefangen hat. Sie ist nach Spanien ausgewandert, diesen Abstand brauchte sie. Das war gut. Sie ist eine großartige Mutter. Der kleine Bruder war noch sehr jung. Heute ist er ein Anwalt, der seine Sache richtig machen will.

Du hast deine Geschwister gefragt, ob du diese Geschichte erzählen sollst. Hast du dich auch selbst befragt?

Ständig, auch jetzt noch. Als Journalist sehe ich eine Geschichte, die zu gut ist, als dass ich sie unerzählt lassen dürfte. In literarischer Hinsicht ist es eine „unerhörte Begebenheit“, die klassische Definition der Novelle. Trotzdem hatte ich immer ein diffuses Unbehagen. Darf ich das? Ist das nicht taktlos? Es ist taktlos. Aber ich darf das. Wir Geschwister haben viel zu viel Zeit und Kraft darauf verschwendet, diese frühe Katas­tro­phe und ihre Folgen zu verwischen.

Das ist auch ein Strip.

Es ist eine Art soziales Coming-out. Wer in den Achtzigern aufwächst, wird automatisch der „Generation Golf“ zugerechnet. Ich bin ja nicht der Einzige, der in dieser gesellschaftlichen Erzählung nicht vorkommt. Es gibt immer Stimmen, für die der Kanon absolut keine Verwendung hat. Ich glaube übrigens, in ein paar Jahren werden die ersten Fluchtgeschichten aus Aleppo auf Deutsch erscheinen. Da können wir uns schon einmal warm anziehen, was die alles zu erzählen haben werden. Dagegen ist das hier ein Witz.

So, und jetzt kommst du“ basiert auf euren Erlebnissen. Trotzdem ist es zuerst ein Roman.

Ich habe in Stuttgart die Verlagsvertreter getroffen. Und einer von ihnen hat gesagt: „Ach, das ist alles wahr? Ich habe das wie eine Schelmengeschichte gelesen.“ Das hat mich gefreut. Denn ob die Geschichte wahr ist oder nicht, ist nicht wichtig. Es könnte auch völlig fiktiv sein, sofern es als Text funktioniert. Ich hätte aber gar nicht die Chuzpe gehabt, mir das alles auszudenken.

Wir wissen, dass deine Mutter gestorben ist. Was ist aus deinem Vater geworden?

Eine interessante Romanfigur, hoffentlich.

Ulrich Gutmair, 48, ist taz-Kulturredakteur und findet in Simon & Garfunkel keinen Trost.

Jan Feddersen, 59, ist taz-meinland-Redakteur und hört in zwiespältigen Lebenslagen auch gern Simon & Garfunkel.

Anja Weber ist Fotografin in Berlin und hat gerade für das Projekt „Making Heimat“ Menschen auf der Flucht fotografiert.