Hausbesuch Birte Schneider hat erfahren, dass sich das Leben ändern kann. Mal war die Familie reich, dann nicht, mal war sie Kind, dann musste sie früh erwachsen sein. Derzeit lebt die Tierärztin in einer WG in Berlin
: Die feine Linie zwischen Leben und Tod

Birte Schneider in ihrem WG-Zimmer vor der Leiter des selbst gebauten Hochbetts

von Nora Belghaus
(Text) und Julia Baier (Fotos)

Zu Besuch bei Birte Schneider, 31, in einer Wohngemeinschaft in Berlin-Neukölln. Vor fünf Jahren zog sie in die Hauptstadt.

Draußen: Am Sonntagvormittag ist es ruhig in Neuköllns Straßen. Vom nahen Industriegebiet zieht ein malziger Geruch über den Kiez. Auf dem Fenstersims vor Schneiders Erdgeschosswohnung hat jemand ein Glas mit Zitronenscheiben abgestellt; es riecht nach Alkohol.

Drinnen: Obwohl ebenerdig, ist die Wohnung hell. Die Türen zu zwei der drei Zimmer sind zu; die Mitwohnenden schlafen noch. Einer lebt schon lange in der WG, die andere ist vor zwei Tagen eingezogen. Schafffelle auf dem Boden strahlen Wärme aus in den großen, nach Räucherstäbchen duftenden Räumen. In Schneiders Zimmer steht ein Hochbett, an den Wänden afrikanische Figuren. Im Bücherregal stehen Biologie-Bände neben Aktenordnern mit der Aufschrift „Doktorarbeit“. Überall sind Musikinstrumente: E-Piano, Ukulele, indische Tabla-Trommeln, Gitarren.

Herkunft: Schneiders Großfamilie kam in den 70er Jahren aus Siebenbürgen nach Deutschland. Nicht alle gemeinsam. Nach und nach ließen sie sich an verschiedenen Orten nieder, ihre Eltern – der Vater Zahnarzt, die Mutter Kindergärtnerin – in Aalen. „Für Siebenbürgendeutsche wurde es in Rumänien nach dem Krieg immer ungemütlicher. Mit Enteignungen und so“, erzählt sie. Ihre Eltern hätten wieder von vorn anfangen müssen – und waren erfolgreich. Sie und ihre Geschwister seien später in einem großen Haus mit Pool und Sauna aufgewachsen. Bis die Eltern sich trennten, als Schneider 13 Jahre alt war und ihre Mutter mit ihr und dem Bruder in eine kleine Wohnung zog. „Ich habe in zwei Welten gelebt. Die eine reich, die andere ärmer. Voll die Kontraste.“

Erwachsen werden: Nach dem Abitur bewirbt sie sich auf einen Studienplatz für Tiermedizin in München. Sie glaubt nicht, dass sie ihn bekommt und plant, ein halbes Jahr nach Peru zu gehen, aber es klappt doch. Sie beginnt das Studium, nur, „dieses Fach fing schnell an, komisch zu werden. Es sollte um das Wohl der Tiere gehen, aber das deutschen Recht hat nicht viel fürs Tierwohl übrig.“ Sie erzählt von einer Fleischbeschau und von Pflichtpraktika im Schlachthof.

Nichts los in Neukölln am Sonntagmorgen

Der Tod der Mutter: Zu dieser Zeit erkrankt ihre Mutter an Krebs. Tagsüber betreut sie sie, nachts lernt sie. „Kurz hingefahren, Prüfung geschrieben, wieder zurück und Wunden getupft.“ Sie klingt nüchtern, fährt sich beim Erzählen jedoch immer wieder so durchs Haar, dass der Scheitel von einer Seite zur anderen wandert und eine kleine Tolle entsteht. Nach zwei Jahren stirbt die Mutter. Sie wurde 55 Jahre alt. Schneider und ihre beiden Geschwister sind am Sterbebett. „Du spürst, wie das Leben aus dem Körper rausfährt. Und heute schläfere ich selbst ständig Tiere ein. Absurd, oder?“, sagt sie.

Reise nach innen: Das Gespräch wird unterbrochen: Ihr Mitbewohner kommt in die Küche, stellt Musik an, setzt Tee auf. Schneider erzählt weiter, wie sie das Studium beendete und beschloss, aus München wegzuziehen – nach Berlin. „Andere machen eine Weltreise, ich mache eine Innenreise.“ Sie beginnt eine Schauspielausbildung, in ihrer Familie hält man das für brotlose Kunst. „Wenige haben ‚Wow, toll‘ gesagt.“ Nach einem Jahr bricht sie ab. „Mir ging es um die Erfahrung und nicht um das Diplom. Ich wollte lernen, mich wieder mehr zu spüren.“

Leben: Eine Weile lebt sie danach noch vom Erbe. „Ich habe einfach mal gelebt, exzessiv, mit kaum Geld, aber viel Zeit.“ Bis es nicht mehr ging. „Das war eine Grenzerfahrung, aber ich glaube im Nachhinein, dass ich das so wollte.“ Als sie wirklich kein Geld mehr hatte, beginnt sie wieder zu arbeiten und hat sich, abgesehen von ihren Kollegen beim Jobben, weitestgehend sozial isoliert. Sie hat als Kind gelernt, Klavier und Geige zu spielen und bringt sich nun Ukulele bei.

Alles und nichts sein: Absurde Jobs hätte sie schon gehabt. Einmal führte sie auf einer Messe in einem Ganzkörper-Latexanzug stundenlang Pantomime vor. Seit ihrem Studium jobbt sie auch fast jedes Jahr auf dem Oktoberfest. „Das ist die Härte. Man braucht zwei Monate, um sich von zwei Wochen Oktoberfest zu erholen.“ Das Fest hätte sie allerdings schon einige Male vor dem Ruin bewahrt. Auch bei einer TV-Produktionsfirma war sie kurz angestellt und fühlte sich, als hätte man ihr ein Korsett verpasst.

Heilen: Plötzlich kommt alles auf einmal: Schneider findet eine Stellenausschreibung für einen mobilen Tiernotdienst und bekommt die Stelle. „Vom Botschafter aus Katar und seiner kotzenden Katze bis zum Obdachlosen mit dem an Brechdurchfall erkranktem Hund ist alles dabei“, sagt sie. Dann erzählt ihr ein Freund von einem Betreuten Wohnen für psychisch kranke Menschen. Sie fängt an zu sinnieren, ja, ihr fehle etwas: die kreative Komponente. Sie bewirbt sich einfach so als Leiterin einer Theatergruppe. Bald darauf studiert sie mit fünf Menschen, die unter Psychosen oder Schizophrenie leiden, Improvisationsstücke ein. Schließlich bekommt sie Wind von einem Theater, das mit Menschen mit Behinderung arbeitet, stellt sich vor, macht ein Regiepraktikum. Manchmal komme sie aus der Puste und müsse einen Gang runterschalten, sagt sie.

Sie hat sich selbst Ukulele spielen beigebracht

Angst:Wieder wird das Gespräch unterbrochen. Diesmal schlurft ein Mann an der Küche vorbei in Richtung Bad. Schneider zieht die Augenbrauen hoch, sagt: „Noch nie gesehen.“ Schneiders größte Sorge sei es, Langeweile und Leere zu empfinden. Und die größte Angst: „Verpasste Gelegenheiten.“ Deswegen mache sie vielleicht auch so viel. Zu viel? Nein, das nicht. Am wichtigsten sei ihr, immer reisen zu können und „im Inneren nicht alt und knöchrig zu werden“.

Zukunft: Das Verhältnis zwischen Tier und Mensch interessiert sie immer mehr. „Warum nicht eine Doku-Reihe darüber filmen?“, fragt sie in den Raum. Eine Kamera hat sie sich neulich „selbst geschenkt“. Oder vielleicht doch erst die angefangene Doktorarbeit über den europäischen Dachs zu Ende bringen? Sicher weiß sie nur, dass sie dieses Jahr nach dem Oktoberfest nach Südafrika reisen will. Mit Ukulele und Kamera.

Am Ende ein Schatz: Schließlich zeigt sie noch ihre „Schatztruhe“, einen alten Lederkoffer voller Tierpräparate, Schädel und Skelettteile. Sie nimmt ein Plastikgefäß heraus. Darin schwimmt ein milchig-weißer, lichtdurchlässiger Schweineembryo. Ein Schlachter namens Uwe hätte den mal bei der Arbeit gefunden und ihn ihr während des Studiums zu Weihnachten geschenkt. Man müsse sich in diesen Berufen, die ständig um die feine Linie zwischen Leben und Tod kreisen, einen schwarzen Humor zulegen, um nicht verrückt zu werden, sagt sie.