Das Prinzip Lulu

OPER An der Staatsoper gelingt Regisseur Marthaler in Bergs „Lulu“ die Demontagealler Kunst-Regeln. Auch für den problematischen dritten Akt gibteseine Lösung

Ganz und gar keine naturalistische Studie: Die kanadische Ausnahmekünstlerin Barbara Hannigan drückt mit eigenwilliger Körpersprache aus, was Lulu und die ihr Verfallenen umtreibt Foto: Markus Scholz/dpa

von Dagmar Penzlin

Lulu lebt in ihrer eigenen Welt. Auf einem kleinen Podest ruht sie: zusammengerollt und eingehüllt in einen langen, schmuddelig blauen Bademantel. Ab und an erhebt sie sich, rollt artistisch vom Podest, gibt ein paar Worte von sich. Manchmal streckt Lulu sitzend Arme und Beine starr von sich oder sie lässt sich fallen, bevor sie sich wieder einrollt. Dass ein Maler sie porträtiert, dass Männer auf der Lauer liegen – es scheint Lulu gleichgültig zu sein. Dass diese Frau allen Menschen, die sie lieben oder begehren, den Tod bringen wird – man ahnt, das wird eher nebenbei passieren. Denn Lulu ist hier keine Femme fatale, sondern eine Frau, die sich entzieht, die zugleich rastlos wirkt und in sich gefangen. Nicht-Kommunikation: das Prinzip Lulu.

An der Staatsoper Hamburg stattet Barbara Hannigan ihre Lulu mit einer eigenwilligen Körpersprache aus – die Inszenierung ist ganz auf die kanadische Ausnahmekünstlerin zugeschnitten. Hannigans Lulu äußert sich nicht nur in exaltierten Klanggesten, sondern sie tanzt auch ekstatisch, hüpft wie ein Flummi, kauert und lauert, reitet auf Herrenschultern oder baumelt immer wieder kopfüber am Hals von Männern. Christoph Marthaler hat gemeinsam mit Hannigan ein nonverbales Vokabular gefunden, um fern einer naturalistischen Studie auszudrücken, was Lulu und die ihr Verfallenen umtreibt, wie wenig sie sich erreichen und verstehen.

Ausstatterin Anna Viebrock hat für dieses szenische Nachdenken über „Lulu“ eine wunderbar verschachtelte Theater-auf-dem-Theater-Welt geschaffen. Es beginnt als Hinterbühnen-Panoptikum. Noch bevor der erste Ton erklingt, reiht ein routinierter Spielleiter die Darsteller von Lulus Verehrern auf, schlägt Fusseln von deren Schultern. Ein skurriler Reigen in grotesk altmodischer Unterwäsche à la „Väter der Klamotte“. Und weil Marthalers stimmige Inszenierung ohnehin ein modernes Hohelied auf den Brecht’schen Verfremdungseffekt ist, laufen die Liebhaber den ganzen Abend allzeit bereit in langen, schlabberigen Unterhosen herum, auch wenn sie nachher Schlips, Kragen und Jackett tragen.

Im zweiten Akt wirkt das Bühnenbild dann wie gedreht. Im Haus von Doktor Schön lebt Lulu als dessen Ehefrau, ohne dass die Zahl ihrer Verehrer kleiner geworden ist. Das Vierer-Rendezvous mit Casting-Charme unterm obligatorischen Mikrofon-Galgen (Achtung, V-Effekt!) eskaliert. Ein Fenster gibt währenddessen den Blick frei auf ein Treppenhaus, in dem immer was los ist. Der eifersüchtige Ehemann tigert mit Pistole herum, die Gräfin Geschwitz als Lulus langmütige Liebhaberin im Suffragetten-Look schleicht wie ein guter Geist treppauf, treppab, und auch eine Geigerin stiefelt die Stufen empor. Schon ein Vorgriff auf den dritten Akt.

Dieser dritten Akt ist unvollendet. Berg ist über der „Lulu“-Komposition 1935 gestorben. Es existiert vom 3. Akt nur ein Particell, ein Entwurf, den Friedrich Cerha später orchestriert hat. Die Hamburger Neuproduktion bleibt bei dem, was Berg hinterlassen hat. Das Ende des 2. Akts gleicht einer Vollbremsung: Eben noch spielt das volle Orchester den dramatischen Akt-Schluss, dann übernehmen zwei Klaviere und eine Geige.

Regisseur Marthaler inszeniert den Bruch im Werk. Die Pianisten und eine Geigerin dürfen sich aufeinander einstimmen, bevor sie das Particell spielen. Probenatmosphäre macht sich zunächst breit, aber wenn Lulu zu den expressiven Phrasen der Geigerin zu tanzen beginnt, wird klar, dass diese Fassung wie ein intensiver Extrakt wirkt. Zugleich korrespondiert der Bruch, die musikalische Implosion mit Lulus Taumeln hin in den eigenen Tod.

Christoph Marthaler beschreibt die Zusammenarbeit mit Hamburgs Generalmusikdirektor selbst im Interview als „Glücksfall“. Marthaler und sein Team durften den dritten Akt massiv kürzen und das Violinkonzert von Alban Berg als eine Art Epilog anfügen. Der Komponist hatte die Arbeit an „Lulu“ unterbrochen, um dieses Konzert zu schreiben – er dachte dabei an den Tod der 18-jährigen Manon Gropius. Deshalb trägt das Werk den Beinamen „Dem Andenken eines Engels“.

Und so bleiben am Ende 20 Minuten, um darüber zu meditieren, inwiefern Lulu ein Engel ist. Dass diese Fassung Schule machen wird, ist unwahrscheinlich – ein interessantes Experiment bleibt sie allemal. Die tote Lulu erhebt sich schließlich und gesellt sich zu vier Alter Egos. Das Prinzip Lulu, es lebt.

Nächste Aufführungen am 18., 21. und 24. Februar in der Staatsoper Hamburg